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Archiv-Artikel

„Das interessiert jetzt überhaupt nicht“

Enzo Salatino war Werkzeugmacher, Gastarbeiter, Linksradikaler und Kollektivist. Seit 13 Jahren betreibt er seine Trattoria da Enzo am Kreuzberg. Doch in den Wochen der Fußball-WM ist der bestens integrierte Gastwirt nur noch eins: Italiener

VON PLUTONIA PLARRE

Wenn es um Frauen und Fußball geht, haben Italiener einen Hang zum Größenwahn. „Wir können besser vögeln und Fußball spielen als deutsche Männer“, schrieb der frühere taz-Geschäftsführer Tonio Milone mal in dieser Zeitung. Was Ersteres betrifft, ist der Gastwirt Enzo Salatino kein typischer Vertreter seiner Zunft. „Da sollte man besser die Frauen fragen“, sagt er mit einem Grinsen. In puncto Fußball gibt er Milone aber Recht. „Wir sind einfach die besseren Techniker.“

Salatino? Kein Mensch kennt den schlanken, mit 1,70 Metern nicht sonderlich großen Mann mit den dunklen Locken unter diesem Namen. „Enzo“, „Enzo“, „Enzo“, schallt es den lieben Abend lang durch die „Trattoria da Enzo“ in Kreuzberg, wo die Gäste an langen Tischen mit weißen Papierdecken sitzen und gebannt auf eine Großleinwand blicken, auf der der Ball rollt. Mittendrin Enzo. Vor dem Bauch ein Geschirrhandtuch, serviert er mit tänzelndem Gang Pizza und Pasta, Bier und Rotwein, vor allem den Salice, einen trockenen Tropfen aus seiner Heimat Apulien im Stiefelabsatz Italiens.

Auch wenn es bei seiner Geschäftigkeit nicht den Anschein hat: Enzo hat die Leinwand stets im Blick. Unbeirrt vom Gebrüll seiner Gäste weiß er genau, wann es im Torraum wirklich kritisch wird. Im Grunde genommen muss man nur Enzo zuschauen. Wenn er mitten im Raum zur Salzsäule erstarrt, die Arme fest vor der Brust unter dem goldenen Kettchen mit dem Kreuz und dem Abbild der Mutter Maria und des Jesuskindes verschränkt und ganz ernst durch seine große Hornbrille schaut, fällt bestimmt gleich ein Tor.

In Minuten wie diesen ist Enzo nur noch Italiener. Zwar lebt er seit 30 Jahren in Berlin. Aber wenn die eigene Mannschaft durch ein vermeintliches Foul um eine Chance gebracht wird, kennt er kein Pardon. Aus seinem Mund entladen sich üble Flüche auf den Schiedsrichter, untermalt von der wild gestikulierenden rechten Hand. Wüste Verschwörungstheorien kursieren im Raum. Die Italiener sind immer die Opfer. Wehe, man spricht Enzo auf den Manipulationsskandal in der italienischen Liga an. Dann glühen seine dunklen Augen vor Wut: „Das interessiert jetzt doch überhaupt nicht.“

Für manchen Berliner ist die Trattoria in der Großbeerenstraße wie ein zweites Wohnzimmer. Alte Freunde und Freundinnen von Enzo aus der Alternativszene gehen dort ein und aus. Gestandene Akademiker, Lebenskünstler und Arbeitslose, Deutsche, Italiener und anderes Volk, Eltern von Kindern, die zum Teil schon erwachsen sind. Leute aus der Nachbarschaft, die sich von Enzos fröhlicher, stets zu einem Schwätzchen aufgelegten, unaufdringlichen, um nicht zu sagen bescheidenen Art angezogen fühlen. Eine Clique von Fußballern, die seit den Spontizeiten in den 70er-Jahren im Tiergarten spielt. Viele haben längst wegen Bandscheiben- und Sehnenproblemen von dem rauen Sport gelassen. Enzo, ganz der Typ Libero der klassischen Schule Franco Baresi, gehört zu den wenigen, die immer noch dabei sind – obwohl er selbst über 50 ist.

„Libero ist Freiheit“, sagt Enzo. Geboren in einem Trullo in dem süditalienischen Dorf Alberobello („schöner Baum“), ist ihm die Liebe zu dem Leder quasi in die Wiege gelegt worden. Trulli hießen die Häuser armer Leute. Die aus Steinquadern gebauten hohen Gewölbe sind von einem Dachkegel gekrönt, unter dem früher das Korn gespeichert wurde. Heute sind die Trulli ein „Monumento nazionale“ und gehören zum Weltkulturerbe der Unesco.

Enzos Familie war arm. Der Vater, früher Tankwart, ist 90 Jahre alt. Der sehr katholische Mann hat mit seiner zehn Jahre jüngeren Frau fünf Söhne gezeugt. Fußball war das Spiel der Armen, die Infrastruktur in Süditalien gab gar nichts anders her. Vor der Schule, nach der Schule, nachmittags, bis spät in die Nacht. Solange sich Enzo erinnern kann, hat er alles gebolzt, was rund ist. In Ermangelung eines richtigen Balles auch zusammengebundene Stofflumpen.

Weil die Eltern kein Geld hatten, stecken sie den Ältesten und den Zweitältesten (Enzo) in ein Benediktinerkloster. Nach drei Jahren flog Enzo raus. „Die Mönche fanden, dass ich mit dem Teufel paktiere statt mit Gott.“ Statt Mönch zu werden, wurde Enzo Werkzeugmacher. Nur ein einziges Mal kam er in seiner Jugend aus Apulien raus: zu einem Frank-Zappa-Konzert in Rom. Als er 23 Jahre alt war, eröffnete sich die große Chance: AEG-Telefunken suchte frisch ausgebildete Arbeitskräfte. So kam Enzo in einer Gruppe von Apuliern, Kalabriern und Sizilianern nach Berlin. Das war 1973.

Nach einiger Zeit im Wohnheim bezog er in Schöneberg eine kleine Wohnung, die zur Anlaufstelle für Freunde, Genossen und Anhänger der linksradikalen Bewegung in Italien, „Lotta Continua“, wurde. Schon in Apulien hatte Enzo mit der Gruppe sympathisiert. Bei seinen Besuchen in der Alten TU-Mensa kam er in Kontakt mit der Berliner linken Politszene. Der legendäre Tunix-Kongress 1978 als Folge des Deutschen Herbstes war die Geburtsstunde für ein alternatives Netzwerk. Die Grünen, taz, Greenpeace und viele Kollektive entstanden. Enzo, bei AEG arbeitslos geworden, gründete zusammen mit fünf Freunden das erste italienische Kneipenkollektiv: die Osteria n.1.

Das Lokal am Kreuzberg wurde weit über Berlin hinaus zum Treffpunkt für die undogmatische Linke. Das Osteria-Kolletiv organisierte auch Solidaritätsveranstaltungen. Der französische Philosoph André Glucksmann, der italienische Satiriker Dario Do, die Schauspielerin Franca Rame und Daniel Cohn-Bendit waren dort zu Gast, um nur einige aufzuzählen.

Mitte der 80er-Jahre löste sich das Osteriakollektiv auf. 1993 machte Enzo die Trattoria da Enzo auf. Das Lokal gehört zum Verein Lebenswelten e. V., einem Verbund von Betrieben. Enzo ist bei dem Verein als Geschäftsführer der Trattoria mit festem Gehalt angestellt. Die Bedingung ist, dass er Behinderte in seinem Lokal ausbildet. Optimale Bedingungen für Enzo: Er ist sein eigener Chef, braucht sich keinen Kopf um die Einnahmen zu machen, ist von Leuten ohne Dünkel umgeben. „Ich beneide ihn um seine Freiheit“, sagt sein alter Mitstreiter aus Osteriazeiten, Piero de Vitis, Inhaber zweier gehobener Restaurants in der Innenstadt, unumwunden.

Es wird hoch hergehen in den nächsten Tagen in der Trattoria, wenn die Berliner Italiener zu den Spielen ihrer Mannschaft einlaufen. Denn so Enzo: „Jeder Italiener ist ein Trainer.“