: Janusköpfiger Kollege aus Deutschland
NOVELLE „Im Kopf von Bruno Schulz“: Maxim Biller nimmt das Leben eines anderen zu Hilfe, um ein existenzielles Unbehagen literarisch zu verarbeiten
VON KATHARINA GRANZIN
Dafür, dass es sicher der mit Abstand dünnste gebundene Belletristiktitel des Jahres ist, hat dieses Buch viel Aufsehen erregt. Maxim Billers Novelle „Im Kopf von Bruno Schulz“, nur etwas über sechzig Seiten lang, wird nicht zuletzt dafür gefeiert, dass sie einen Autor ins allgemeine Bewusstsein hebt, dessen ungewöhnliches Werk im deutschen Sprachraum erst lange nach seinem Tod entdeckt wurde.
Der polnisch-jüdische Schriftsteller und Künstler Bruno Schulz (geb. 1892) starb 1942, erschossen im Getto seines galizischen Heimatortes Drohobycz – vielleicht von der Gestapo im Rahmen einer „Bestrafungsaktion“, vielleicht aber auch von einem SS-Mann, der einem Kollegen eins auswischen wollte, indem er ihm „seinen“ Juden umbrachte. (Eine Ausstellung mit Rekonstruktionen der Wandbilder, die Schulz für die Villa eines ihn protegierenden SS-Offiziers malte, war Anfang des Jahres in Berlin zu sehen.)
Das literarische Werk des Ermordeten blieb schmal. Zu Schulz’ Lebzeiten waren nur zwei, jedoch sehr beachtete Bände mit Erzählungen auf Polnisch erschienen. Einen Roman hatte er geschrieben – geplanter Titel: „Der Messias“ – und das Manuskript in den Kriegswirren Bekannten anvertraut. Es ist nie wieder aufgetaucht. „Die Zimtläden“, der bekanntere seiner beiden Erzählungsbände, wurde erstmals 1961 auf Deutsch veröffentlicht. Eine wunderschöne Neuübersetzung erschien 2008.
Schulz schrieb polnisch, verfügte aber über hervorragende Deutschkenntnisse. Eine einzige auf Deutsch entstandene literarische Arbeit von Schulz soll existiert haben – eine Novelle, die er eigens schrieb, um sie dem von ihm sehr verehrten Thomas Mann zu senden. Auch dieses Schriftstück ist nicht erhalten, ebenso wenig die Briefe, die Schulz an Mann schrieb, oder das Antwortschreiben, das jener geschickt haben soll. Die Existenz oder Nichtexistenz all dieser Dokumente liegt bereits im Bereich des Mythischen. Wenn Maxim Biller in seiner Novelle also Bruno Schulz einen Brief an Thomas Mann schreiben lässt, gehorcht er damit durchaus dem Postulat, unter das Schulz selbst seine literarische Produktion stellte. Die „Mythisierung der Wirklichkeit“ war sein künstlerisches Credo und ästhetisches Programm.
Auch Biller ordnet sich diesem Programm gewissermaßen unter, indem er die Person des Bruno Schulz in eine Erzählwelt einordnet, die als Fortschreibung von dessen eigenem literarischem Kosmos gelesen werden kann. Die literarische Mimikry, die Biller betreibt, ist von großem Können und durchaus mehr als reine Nachahmung. Biller verarbeitet Material aus Schulz’ Werk und Biografie zu einer phantasmagorischen fiktiven Innenschau von dessen überempfindlicher Künstlerseele und bewahrt dabei einen Erzählgestus, der die Balance zwischen dem fantastisch aufgeladenen Fluss der Bilder und heutigen Leseerwartungen hält. Wo Schulz’ Duktus opulent, attributlastig und poetisch, aber nicht ohne Pathos ist, fließt die Biller’sche Prosa glatter dahin, gleicht die größere Nüchternheit im Stil aber durch eine stärkere Drastik der evozierten Bilder aus.
Doch so virtuos gearbeitet Billers Novelle sein mag, ihr Gegenstand ist, neben Bruno Schulz natürlich, auch Thomas Mann.
Bruno Schulz also schreibt einen Brief an ihn. Es ist ein Brief, in dem Bruno, wie der Protagonist der Novelle genannt wird, den verehrten Kollegen aus Deutschland von einer beunruhigenden Erscheinung in Drohobycz in Kenntnis setzen will. Ein Thomas-Mann-Doppelgänger sei dort aufgetaucht, der behaupte, der berühmte Schriftsteller zu sein, es aber unmöglich sein könne, da er sich unmöglich benehme: „Aber dann plötzlich schleudert der Fremde das Messer und die Gabel wild durch das Restaurant […], er greift mit den Händen in den Teller, stopft sich das Essen in den Mund, und Blut spritzt ihm aufs Hemd und in die Augen. Zum Glück hat er noch niemand mit dem davonfliegenden Besteck getroffen!“
Daneben tut der Mann auch Dinge, die Schriftsteller tun; zum Beispiel eine Lesung in der örtlichen Apotheke abhalten, bei der die Zuhörer, klein wie Vögelchen, in den vielen Schubladen und Fächern des Ladens sitzen. Zudem bedient der falsche Thomas Mann sich der Biografie des echten und erzählt seinen galizischen Bewunderern von seinen Emigrationsplänen und der Tatsache, dass er in den USA eine nette Villa in Aussicht habe. Es kommt zur Eskalation, wobei der falsche Autor brutal um sich schlägt, um die Verzweifelten abzuwehren, die sich an ihm festklammern. Das Badezimmer, in dem er Audienz gehalten hat, wird zu einer Art Miniatur-Auschwitz. Eine Rauchwolke steigt auf, „zog sich zusammen und stieg zur Decke auf, wo sie mit einem lauten Zischen in den Düsen der Duschen verschwand – und gab so den Blick frei auf einen großen Haufen nackter Körper, die leblos um den vor Erschöpfung knienden, falschen Thomas Mann herumlagen.“
Sehr subtil ist dieses Bild ja nicht. Aber Biller hat vorgesorgt für den Fall, dass ihm das jemand vorwerfen sollte. Es ist schließlich nicht er, sondern der prophetisch hellsichtige Bruno, der dies schreibt, in seinem Brief an Thomas Mann nämlich, und der, als er das Geschriebene noch einmal überfliegt, zu sich selbst sagt: „Vielleicht ist der Schluss ein bisschen übertrieben.“ Vielleicht ist auch ein bisschen zu viel Biller in Brunos Kopf.
Ob der falsche Thomas Mann ausschließlich als Vision im Kopf von „Bruno“ existiert oder ob diese monströse Gestalt innerhalb der Logik der Novellenwelt auch ein wirkliches Leben hat, bleibt offen. Und auch wenn dieses grotesk entstellte literarische Porträt des deutschen Großschriftstellers wie eine ziemliche Dreistigkeit scheint, wird dieser doch an der Textoberfläche dadurch die Spitze genommen, dass der Doppelgänger explizit als nicht identisch mit dem echten deutschen Kulturträger Thomas Mann eingeführt wird.
Auf einer tiefer liegenden Ebene aber ist die Einführung dieses unheimlichen janusköpfigen Monsters – der Doppelgänger entpuppt sich am Ende gar als Gestapo-Zuträger – natürlich als Anklage zu verstehen, mindestens aber als Kommentar zur deutschen Geschichte.
Während die Person des realen Thomas Mann in Billers Text abwesend ist, verhält es sich mit dem realen Bruno Schulz anders. Für die „Bruno“-Figur verwendet Biller zweifellos Elemente aus Leben und Werk des polnischen Autors; eine Identifikation der literarischen Figur mit dem realen Dichter kann da nicht ausbleiben. Wäre man der an der Nachwelt teilnehmende Geist des Bruno Schulz, oder auch dessen lebendiger Erbe, so wäre man wahrscheinlich nicht wenig konsterniert von dem Bild, das dieser Nachgeborene da von einem entwirft: das Porträt eines verkorksten Psychotikers, eines von Wahnvorstellungen Besessenen, der allein in masochistischen sexuellen Erlebnissen eine flüchtige seelische Ruhe findet.
Die extreme Gegensätzlichkeit, die Biller zwischen der Schulz- und der Mann-Figur aufbaut, läuft letztlich, analog zu Brunos sexuellen Fantasien, auf eine sadomasochistische Konstellation hinaus – oder vielmehr auf eine masochistische Fixierung von „Bruno“ auf den falschen Thomas; denn dieser nimmt Bruno seinerseits gar nicht wahr.
Wie Biller die erotischen Unterwerfungsgesten, die in den Zeichnungen des wahren Schulz so oft zum Thema werden, aufnimmt und zu einer allumfassenden, historisch aufgeladenen Metapher umdeutet, ist kühn. Man muss kein zertifizierter Analytiker sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass es in Billers Novelle weniger um das Schicksal des Bruno Schulz geht als darum, dass sich hier einer gründlich an dem existenziellen Unbehagen abarbeitet, das es ihm bereitet, gleichzeitig Jude mit osteuropäischen Wurzeln und ein deutscher Autor zu sein.
Das kann – aber muss es das eigentlich? – ein stark gefühlter innerer Widerspruch sein, der sich hervorragend als Schreibanlass eignet. Als Autor hat man die Berechtigung, einen produktiven inneren Konflikt auch ordentlich zu pflegen. Inwieweit es angemessen ist, das Leben und Sterben anderer Menschen für die eigenen literarischen Zwecke zu instrumentalisieren, muss dann jeder im Prinzip für sich selbst entscheiden.
Aber auch als Leser muss man sich entscheiden, was man in den Kopf hineinlässt. Bruno Schulz lesen? Ja, unbedingt. Und zwar auf jeden Fall zuerst.
■ Maxim Biller: „Im Kopf von Bruno Schulz“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 80 Seiten, 16,99 Euro