Kapitulation in Weiß

GESUNDHEIT Nur Hohn und Spott hat die Große Koalition für eine der zentralen Regierungsaufgaben übrig. Die Verlierer werden die Patienten sein

Es sind nicht nur die viel geschmähten Pharmalobbyisten. Es sind die Zahnärzte und die Apotheker, die Heilmittelhersteller, die Pflegeverbände und die Physiotherapeuten, die privaten und die gesetzlichen Versicherungen, die Klinikärzte, die niedergelassenen Ärzte, die Krankenhausfunktionäre, die Kammern, die Fachgesellschaften, die Medizinunternehmer – und die Patienten, potenziell 80 Millionen Menschen: Kein Bereich der Politik ist so massiv von Interessengruppen umlagert wie das Gesundheitswesen, nirgends wird mit härteren Bandagen gekämpft um Gesetze, Verordnungen, Reformen. Und um die Manipulation der öffentlichen Meinung.

Es geht um viel Geld. Fast 300 Milliarden Euro, rund 11 Prozent des BIP, werden jährlich in Deutschland für die Gesundheit ausgegeben. Schließlich geht es um das höchste Gut der Menschen, ihr Leben.

Als Minister verantwortlich zu sein für die Gesundheitspolitik, so hat das Norbert Blüm in den 1980ern mal formuliert, gleiche einem „Wasserballett im Haifischbecken“. 30 Jahre später nun verrät die Union nicht nur Blüms Erbe, sie erklärt obendrein ihre politische Kapitulation vor dem System. Es lohne nicht, die Charismatikerin des Kabinetts, Ursula von der Leyen, den Haien zum Fraß vorzuwerfen. Wer es mit den Lobbyisten aufnehme, der könne nur untergehen. Die Botschaft dahinter: Wir sind vor dieser Klientel machtlos. Gesundheitsminister, das ist ein Job für Verlierer.

Was hat Hermann Gröhe wohl verbrochen, um noch vor Amtsantritt mit so krasser Respektlosigkeit von der eigenen Partei als Lusche vorgeführt zu werden? Selten jedenfalls ist eine politische Bankrotterklärung so ehrlich kommuniziert worden. Es geht den Ministern dieser Koalition nicht darum zu gestalten, zu verändern, Verantwortung zu übernehmen, kurz, ihren Job zu machen, für den sie gewählt und bezahlt werden. Es geht um Ansehen, Karriere, Fortkommen. Und da macht sich, wir staatstragende Medienvertreter plappern es sogar noch nach, ein Amt mit Auftritten auf internationalem Parkett und mit schillernden Fotos vor Truppenkulisse einfach besser. Wirklich mutig und verdienstvoll wäre es von Ursula von der Leyen gewesen, aufzuräumen mit der jahrzehntelangen Klientelpolitik.

Aber solche grundlegenden Weichenstellungen, heißt es dann, plane die Große Koalition ja ohnehin nicht in der Gesundheitspolitik. Wie bitte? Wie viel Verzögerung, Abwarten und Nichtstun meint dieses Land eigentlich noch sich leisten zu können?

Unsere Kinder verfetten. Doch statt Prävention investiert Deutschland in überteuerte Cholesterinsenker, Diabetespräparate und Magenverkleinerungschirurgen. Unsere Alten werden millionenfach dement. Ein nationaler Aktionsplan? Wofür denn – solange die Familien stillhalten. Unsere niedergelassenen Ärzte behandeln Patienten nicht nach Art und Schwere ihrer Krankheit, sondern nach dem Status ihrer Versicherung. Doch statt eines Aufschreis erfolgt die Belehrung, die Zweiklassenmedizin gehöre halt ebenso zur deutschen Tugend wie die Überzeugung, dass Arbeitgeber sich nicht paritätisch an der Krankenversicherung beteiligen müssten. Unsere Arzneimittelausgaben explodieren – doch keiner traut sich ran an eine Positivliste. Unsere Krankenhausärzte riskieren ihren Job, wenn sie Fallzahlen und Mengenvorgaben ihrer Controller nicht erfüllen. Sie lassen sich auf Seminaren der Pharmaindustrie einlullen, weil die Ärztekammern dies mit Fortbildungspunkten honorieren. Anschließend versichern sie, den Nutzen für die Patienten und deren Wohl niemals aus den Augen zu verlieren.

Gesundheitspolitik wird – neben Energie- und Klimafragen – das Schlüsselthema des 21. Jahrhunderts sein. Wenn diese Koalition fahnenflüchtig wird und sich weigert, die sozialpolitischen Weichen zu stellen, dann droht dem Land ein Krieg – um Lebenschancen. Aber für diesen Ernstfall zumindest sind wir ja gewappnet. Mit einer starken Verteidigungsministerin. HEIKE HAARHOFF