Hallo, Oma Schlegel!

PERFORMANCE Die New Yorker Philosophin Avital Ronell bringt im HAU ihre intellektuelle Biografie auf die Bühne, mit viel Wort und etwas Musik

Was bedeutet es, in die Rolle des Hochschullehrers zu schlüpfen? Die Maske des Akademikers aufzusetzen?

Der Philosophie geht es nicht gut. An den Universitäten schrumpft das Fach dahin, institutionell wie inhaltlich. Einige der spannenderen Fragen der Disziplin wurden an Germanistik oder Kulturwissenschaften weitergereicht. Und nun? Soll demnächst das Theater wieder als moralische Bildungsanstalt dienen? Ganz so weit würde die amerikanische Philosophin Avitall Ronell vermutlich nicht gehen. Aber für eine Lecture-Performance zur Inszenierung ihrer intellektuellen Biografie war ihr das HAU 3 am Donnerstag gerade recht.

Was bedeutet es, in die Rolle des Hochschullehrers zu schlüpfen? Ist es ein Gewaltakt gegen sich selbst, die Maske des Akademikers aufzusetzen und sich den Zwängen eines Diskurses zu beugen? Und über wen genau spricht man, wenn man über sich selbst spricht? Sekundiert von ihren Kollegen Suzanne Bernstein und Laurence Rickels, beide Germanisten wie Ronell, nutzte die Professorin von der New York University die ihr zugemessene Stunde für ein Spiel mit dem Nichterfüllen akademischer Konventionen – ein Weg, der sie zu einer der führenden Intellektuellen in den USA machte. Auf der Bühne drei sparsam dekorierte Tische für die Nichtkonferenz, rechts davon die Musiker Tatjana Mesar und Greg Cohen an Flöte und Kontrabass, links ein Fernseher für Videokommentare, im Hintergrund eine Leinwand.

Ronell erzählte von ihrem Studium bei Jacob Taubes an der FU Berlin, von ihrer akademischen „Familie“, bestehend aus „Oma Schlegel“, „Tante Nietzsche“ und „Cousin Freud“, dem Ronell „den Weg jenseits des Lustprinzips“ wies, nicht ohne kleinen Seitenhieb gegen die Triebtheorie des Begründers der Psychoanalyse: „Lust lässt sich nicht auf ein Prinzip reduzieren.“

Widerspruch hat bei ihr gewissermaßen Methode. „Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass Unruhestiften zu den Pflichten einer Frau gehört.“ Eine gute Hysterikerin, wie Rickels kommentierte, ist Ronell gewiss. Manche Psychoanalytiker würden sogar behaupten, Hysteriker seien die besseren Wissenschaftler. An Wissenschaft im engeren Sinne ist Ronell allerdings wenig gelegen. Wie sie berichtet, führte sie die enge Gegenstandsbestimmung der Germanistik, in der immer neue Untersuchungen zu Goethes „Werther“ folgen, schließlich zur Technik als Forschungsobjekt. „Ich kam nur bis zum Telefon“, eine Anspielung auf das „Telefonbuch“, ihre bekannteste Veröffentlichung. Der französische Philosoph Jacques Derrida, eine Konstante in Ronells Denken, bekommt als Insiderwitz denn auch einen Videoauftritt via Handy-Display.

Trotz aller Verweigerung akademischer Gepflogenheiten ist dies eine absolut akademische Veranstaltung, in der sich die Protagonisten ihre Diskurshappen wie Fingerfood zuwerfen, Akademikerwitze reißen und eine Fülle von Bezügen herstellen, wie sie auf einer Konferenz nicht fehl am Platze wären. Als es in dem prall gefüllten Raum immer stickiger wird, besinnt sich Ronell der versammelten Körper: „Es ist sehr heiß hier drin. Ich entschuldige mich für das Wetter“ – nicht ohne zu erwähnen, dass Nietzsche dasselbe getan habe, als er verrückt wurde.

Mehr Selbstinszenierung als ernsthafte Konkurrenz für ein Diskurstheater à la René Pollesch, ist diese „wahre Fiktion“ über Ronells Ungedachtes und Undenkbares als Bühnenexperiment durchaus anregend. Freilich werden die anderen szenischen Mittel stark in die Requisite gedrängt: Die zarte Musik von Mesar und Cohen bewegt sich am Rande der Hörbarkeit und kommentiert lediglich hin und wieder das Geschehen, so wie die Videos die Aussagen. Ein wenig mehr Eigenleben hätte man Musik und Bild durchaus gewünscht. TIM CASPAR BOEHME

■ „What Was I Thinking?“, HAU 3, 19., 20. Juni, 20 Uhr. Avitall Ronell spricht am 30. Juni um 20 Uhr im Zentrum für Literaturforschung, Thema: „ ‚What was Authority?‘ A Parasite’s Report (On the Defeat of Politics since Kafka)“