: Der Missionar
VON HANNES KOCH
Mit beträchtlicher Verspätung rauscht der Minister in den Saal. Es ist der Tag, an dem Bundesfinanzminister Peer Steinbrück den Haushalt 2006 in den Bundestag eingebracht hat. Nun soll er vor dem Managerkreis der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung seine, wie er selbst sagt, „fünfte Rede heute“ halten. Dazu hat er eigentlich keine Lust mehr, er ist bedient. Und das versucht er nicht einmal zu verbergen.
Steinbrück braucht zwei Minuten, um der Arbeit von zwei Monaten den gebührenden Platz zuzuweisen: Das Papier, das der Managerkreis über die „Verantwortung der Unternehmer“ geschrieben hat, verstehe in der Bevölkerung eh niemand. Allein schon wegen der Sprache. „Corporate Social Responsibility“, vergnügt sich der Vizevorsitzende der SPD auf Kosten der Stiftung, was soll denn das sein? Fachchinesisch.
„Ihr dummen Sozialdemokraten“, sagt ein SPD-Bundestagsabgeordneter – das sei der Ton, in dem der Finanzminister für seine Anliegen werbe. Auch für die Reform der Unternehmenssteuer, die Steinbrück heute dem SPD-Parteirat erklären wird. Der Finanzminister will die Belastung der Konzerne senken, weil auch Nachbarstaaten wie Schweden und Österreich die Steuer reduziert haben.
Was für den 59-jährigen Steinbrück eine schlichte Wahrheit darstellt, ist für manchen SPD-Politiker eine Zumutung. Die Dringlichkeit, die Steinbrück seinen Argumenten beimisst, erinnert den SPD-Linken Niels Annen, 33, an den „Duktus der Agenda-Zeit“, als Exbundeskanzler Gerhard Schröder die Partei mit den Hartz-Gesetzen schockierte. Ansagen von der Sorte „Ihr müsst mal die Realitäten anerkennen“ wollen viele in der Partei nicht mehr hören und reagieren entsprechend abweisend.
Wie die Linke Andrea Nahles, 36, auf der Sitzung des SPD-Präsidiums am 29. Mai. Als da Steinbrück laut über Kürzungen der Leistungen für Hartz-IV-Arbeitslose nachdachte, verzog Nahles angewidert das Gesicht. Gern ging Steinbrück darauf ein und zog seine Kritikerin auf. Für die spöttische Bemerkung „Wenn ich schon sehe, wie Frau Nahles guckt …“ fing Steinbrück sich einen Tadel von Parteichef Kurt Beck ein. „Wir machen hier keine Gesichtsinterpretationen“, beendete der Vorsitzende den in Steinbrücks Augen sportiven Konflikt.
Der Finanzminister erliegt mitunter seinem Hang zum verletzenden Scherz. „Auf einen guten Witz kann er selten verzichten“, sagt ein ehemaliger Kieler Ministerkollege Steinbrücks. Eine Spur Rüpelhaftigkeit meint der sich leisten zu können. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Hans Eichel ist er studierter Ökonom. Dass er nicht nur etwas von den unternehmerischen Verhältnissen auf der Angebotsseite der Wirtschaft versteht, sondern auch von Nachfragepolitik zugunsten der Verbraucher, attestieren ihm selbst Kritiker wie der ehemalige Hamburger SPD-Bürgermeister Ortwin Runde. Als früherer Mitarbeiter des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau, Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein und NRW-Ministerpräsident kennt Steinbrück sich so gut in der deutschen Bürokratie aus wie kaum ein anderer Spitzenpolitiker. Weder beschleichen ihn Zweifel an seinem politischen Talent noch an anderen Fähigkeiten. Im März letzten Jahres unterlag er Schach-Weltmeister Wladimir Kramnik erst, als ihm im 25. Zug ein klitzekleiner Fehler unterlief. In einer Nacht liest er mal eben eine Friedrich-II.-Biografie und eine über Stalin gleich hinterher. Im Leben von Harry Graf Kessler kennt er sich ebenso gut aus wie in der Biografie des 1922 erschossenen Außenministers Walther Rathenau. „Beim Denken ist Peer Steinbrück einer der schnellsten Menschen, die ich kenne“, sagt ein Kabinettskollege aus der Düsseldorfer Zeit. Er laufe aber Gefahr, „die nötige Kommunikation zu vergessen“.
Manche in der Partei beklagen Steinbrücks „missionarischen Eifer“ – Widersprüchlichkeit inklusive. Einerseits ist Steinbrück eine Art westdeutscher Matthias Platzeck. Wie der zurückgetretene SPD-Chef aus Potsdam gehört der Finanzminister zu den wenigen Spitzenpolitikern, die noch die soziale Verwahrlosung bemerken, die lange vor Hartz IV eingesetzt hat. Steinbrück, der Vater von drei Kindern, hat einen wachen Blick für Eltern, die ihre Kinder ohne Frühstück in die Schule schicken.
Wenn er über „Fliehkräfte“ spricht, an denen eine Gesellschaft zerbrechen könne, mahnt er Konzernvorstände und Wirtschaftslobbyisten, es nicht zu weit zu treiben mit der Deregulierung. Ein „handlungsfähiger Staat“, so Steinbrück, brauche Geld und könne es sich nicht leisten, permanent die Steuern nur zu senken. In solchen Momenten preist er wettbewerbsfähige Wohlfahrtsstaaten wie Schweden und Finnland, die viel mehr Steuermittel in ihre Sozialsysteme stecken als Deutschland. Steinbrücks Parteigänger innerhalb der SPD, etwa der Wirtschaftsexperte Rainer Wend, stellen dies als zeitgemäße sozialdemokratische Vision heraus.
Doch auch die Kritiker des Finanzministers finden reichlich Stoff in den Grundsatzreden, von denen er seit Herbst 2005 mehrere gehalten hat. Einen „fetten Staat“ lehne er ab, erklärt Steinbrück. Was nütze der Neubau eines Kindergartens, fragt er, wenn viele Kinder in den Trabantenstädten von ihren Eltern gar nicht mehr in die Betreuung geschickt würden? Es habe keinen Sinn, mehr Geld für Sozialleistungen auszugeben – man müsse ohnehin knappe Mittel besser verteilen.
Wegen solcher Ansichten genieße „Steinbrück das uneingeschränkte Misstrauen der Partei“, sagt ein Vertreter der Parlamentarischen SPD-Linken. Zu stark erinnere seine praktische Politik an die Schröder-Ära. Wenn er die Konzerne steuerlich entlasten und wohlhabende Bürger vor einer nennenswerten Zusatzbelastung bewahren wolle, wenn er den Steuerzuschuss an die Krankenversicherung streiche und über die Reduzierung des Kindergelds nachdenke, habe dies mit sozialdemokratischer Programmatik nichts zu tun.
Auf eine starke Hausmacht innerhalb der Partei und eine große Zahl enger Weggefährten kann Steinbrück sich nicht stützen. Trotzdem muss er sich einstweilen keine Sorgen machen. Denn bislang trägt der neue SPD-Vorsitzende Kurt Beck die Pläne aus dem Finanzministerium mit. Nachdem Beck kürzlich in einem Interview den Eindruck erweckt hatte, er plädiere für weitere Steuererhöhungen, dauerte es nur wenige Tage bis zur Veröffentlichung einer gemeinsame Presseerklärung mit Steinbrück. Darin hieß es, über die geplante Anhebung der Mehrwertsteuer hinaus seien „keine Steuererhöhungen vorgesehen“. Gegenüber den Medien und der Öffentlichkeit hat Steinbrück damit seine Linie verteidigt, kein frisches Geld in die Sozialsysteme zu leiten. Seitdem befürchten die Linken, dass auch die Reform der Unternehmenssteuer mit Becks Unterstützung so kommt, wie der Finanzminister sie plant.
Auf längere Sicht jedoch bedeutet die Wahl des biederen Beck zum Parteichef allerdings einen gravierenden Nachteil für Steinbrück: Als potenzieller Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 2009 wird er nun nicht mehr gehandelt.