: Der Tod ist kein Argument
DISKURSEXZESSE Abarbeiten am Simulacrum Gottes: Das dokumentarische Theater Capriconnection, in Basel beheimatet, trifft in ihrem Stück „Ars Moriendi“ auf einen Baudrillard-Lesezirkel und lässt vom Tode singen
VON RENÉ ZIPPERLEN
Der Name klingt wie ein hingeworfener Jux. Aber schließlich stand am Anfang ja auch Sex. Oder besser: das Geschäft mit dem Sex. 2006 setzte die 27-jährige Regisseurin Anna-Sophie Mahler die Schauspielerinnen Rahel Hubacher und Susanne Abelein in das Schaufenster der Basler Capri Bar für eine szenische Lesung ihrer Recherchen zum Sexgewerbe. Das war die Geburtsstunde von Capriconnection.
Doch inzwischen ist die Theatertruppe ihrem Namen entwachsen und zu einer der spannendsten der deutschsprachigen Schweiz geworden. Aktueller Höhepunkt der rasanten Entwicklung ist das bisher größte Projekt „Ars Moriendi“, mit dem Capriconnection, verstärkt durch Gäste und Musiker der Schola Cantorum Basiliensis, mit dem WDR und dem Berliner Hebbel am Ufer kooperiert. Die Premiere in Basel wurde vor zwei Wochen stürmisch gefeiert, ab Donnerstag gastieren sie im HAU.
Boris Brüderlin, einst Assistent bei Stefan Kaegi vom Gießener Kollektiv Rimini Protokoll, gehört neu zum kreativen Inner Circle. Das ist kein Zufall. Denn auch Capriconnection hat sich dem dokumentarischen Theater verschrieben, wenn die Gruppe auch früh eine ganz eigene Spielart gefunden hat. Der auffälligste Unterschied ist: Anders als Rimini Protokoll, die einen wahren Boom des Dokumentarischen auf der Bühne ausgelöst haben, gibt es bei Capriconnection keine Laien, die als Experten sich selbst und ihre Lage auf der Bühne darstellen. Die deutsch-schweizerische Gruppe spielt das recherchierte und dramaturgisch aufbereitete Material selbst. Das entlockt dem Text spielerisches Potenzial, er wird biegsamer und mehrdeutiger. Und der von anderen Gruppen zuweilen überstrapazierte Diskurs um Authentizität und Fiktion tritt in den Hintergrund.
„Ars Moriendi“ ist nun eine Zeitreise auf dem Grat zwischen raffinierter Unterhaltung und Ernsthaftigkeit. Man kehrt zurück ins Jahr 1983, nach Tübingen. Das linksintellektuelle Milieu in Deutschland schwebt in einem Limbo zwischen unvollendeter Revolution, unbewältigtem RAF-Trauma und dem sich Bahn brechenden Neoliberalismus und Hedonismus. Im Salon der Konkursbuch-Verlegerin Claudia Gehrke treffen sich fünf Philosophen, darunter Marlies Gerhardt, Gerd Bergfleth und Michael Rutschky, zur Verhandlung der letzten Dinge: Es geht mit und gegen den französischen Kulttheoretiker Jean Baudrillard und um sein Konzept der Abschaffung der Wirklichkeit durch ihre Simulation. Um die Möglichkeit der Veränderung, wenn sich alles bereits ereignet hat, um eine Haltung dem Leben gegenüber, wenn es keinen Glauben an feste Wahrheit mehr gibt.
Vor allem aber geht es um den Tod, und der ergreift mit den jungen Sängern und Sängerinnen der renommierten Basler Schule für Alte Musik nach und nach die Macht auf der Bühne. Die Musik war denn auch Ausgangspunkt für den Theaterabend: die Auseinandersetzung mit dem englischen (Früh-)Barock, der den Tod fast zärtlich mitten im Leben willkommen heißt. Auf den wichtigsten Teil des Textmaterials, die heute so fern scheinenden Tübinger Diskursexzesse, die das Konkursbuch „Tod der Moderne“ dokumentiert, stieß Anna-Sophie Mahler erst zufällig, als ihr zum Thema Tod die Lektüre von „Der symbolische Tausch und der Tod“ des postmodernen Denkers Baudrillard empfohlen wurde. Beide Werke sind nun zentral im Stück verankert. Und während sich die Tübinger Diskutanten gedanklich an Baudrillards damaliger Übergröße bis aufs Blut abarbeiten, wirkt der Franzose selbst schon wie ein schweigendes oder leider unverständliches Simulacrum Gottes.
Es war dieses unbedingte Ringen um Wahrheit, das manchmal auch nur wie Rechthaberei scheint, das Anna-Sophie Mahler bei der Lektüre fasziniert hatte. „Heute wirkt diese Intensität fast absurd, aber dieses Bewusstsein, dass es bedeutsam ist, sich elementare Gedanken über die Gesellschaft zu machen, kann man heute auch wieder vermissen.“ Aus Neugier hat die Gruppe die damaligen Akteure Rutschky („diese Jugendsünde“) und Gehrke besucht, wo sie auf noch immer lustvolle Kampfbereitschaft und distanzierte Ironie stieß – und auf einen Szenesprech, den man fast vergessen hatte.
Der ist nun als dritte Ebene in den nachgespielten Interviews wieder höchst präsent, mit komischem Potenzial. Gehrke im O-Ton: „Man kann nicht sagen, dass wir ein klares politisches Ziel gehabt hätten, aber es war natürlich so, dass es irgendwie richtig war, dass man philosophiert hat.“ Aus den Interviews, den philosophischen Texten und Diskussionsrunden und dem musikalisch auftretenden Tod ist so ein vielschichtiger Theaterabend über das Spekulative und das Faktische geworden.
Es geht bei Capriconnection aber auch immer um Humor und Lust. Lust am Abklopfen allzu vertrauter Systeme und Lust zur Auseinandersetzung mit dem Beiseitegeschobenen. Das war so in „Heiler werden“ (2009), als Capriconnection mit dem Living Dance Studio Peking Heilkräfte zwischen Heidiland und Himalaja untersuchten. Das ist augenfällig auch jetzt in dem Wettstreit des philosophischen Systems mit dem Leben – und letztlich mit dem Tod selbst. Was die Stärke der Gruppe ausmacht: Diese Systeme werden zwar ausgestellt – aber nie der Lächerlichkeit preisgegeben, nur der Überprüfung. Mit offenem Ausgang.
■ „Ars Moriendi. Ein Musiktheater über die Kunst des Sterbens“, Capriconnection und Schola Cantorum Basiliensis: 24. bis 27. Juni, 19.30 Uhr, Hebbel am Ufer