: Heilsbringer gesucht
ITALIEN Die vorzeitige Abreise droht: Nun richten sich vor dem Spiel gegen die Slowakei alle Hoffnungen auf den ersten Einsatz des Spielmachers Andrea Pirlo
PRETORIA/BERLIN dpa/taz | Er hat bislang noch nicht gespielt. Und genau dieser Umstand ist es, der Andrea Pirlo zur Projektionsfläche der enttäuschten italienischen Hoffnungen macht. Vor dem heutigen Endspiel um den Einzug ins Achtelfinale gegen die Slowakei sehnen sich die Italiener einen Heilsbringer herbei. Gerade im Spiel nach vorne haben die Azzurri bei ihren ersten Auftritten gegen Paraguay und Neuseeland ausnahmslos enttäuscht. Nun soll der bislang wegen einer Wadenverletzung verhinderte Spielmacher Pirlo dem müden italienischen Angriffsspiel neues Leben einhauchen.
Der Nationalcoach Marcello Lippi beschwört seine Qualitäten: „Er kann in einem Spiel den Unterschied ausmachen.“ Der 31-Jährige hatte schon 2006 die Regie geführt, als Italien Weltmeister wurde.
Vermutlich wird Lippi sein Team noch auf weiteren Positionen umbauen, um die Offensive zu stärken. Als Eingeständnis eigener Fehler darf man dies jedoch nicht werten. Der Trainer ist der Ansicht, dass die bisherigen Leistungen seines Teams viel zu schlecht bewertet werden: „Wir sind viel, viel besser als unsere Resultate bisher.“ Lippi will sich nicht rechtfertigen, er geht in die Offensive, er legt sich mit den Reportern an, wo es nur geht. Als er um ein WM-Zwischenfazit gebeten wird, zitiert er „Jeremy? äh, Jesse James: Die Pferde werden im Stall gezählt.“ Soll heißen: Abgerechnet wird zum Schluss. Woraufhin ein Journalist entgegnet, er berufe sich da ja auf einen Banditen, und Lippi lacht: „Sind ja auch viele davon hier im Raum.“
Lippi scheint die Konfrontation zu genießen. Ist das vielleicht der Grund, warum er sich das Ganze unbedingt noch einmal antun wollte, vor zwei Jahren nach dem EM-Aus im Viertelfinale, als er dem Verband kaum eine andere Wahl ließ, als ihn zum Nachfolger seines eigenen Nachfolgers Roberto Donadoni zu machen?
Dass er mit großem Fußball würde reüssieren können, dürfte er jedenfalls nicht ernsthaft erwartet haben – zu talentfrei ist seine Angriffsabteilung. Hinten stehen sie ja halbwegs solide, auch das defensive Mittelfeld mit Riccardo Montolivo und Daniele De Rossi ist nicht das Problem. Diese WM aber, so sieht es bisher aus, wird durch die Qualität in vorderster Front bestimmt – und wo bei Argentinien Messi, Higuaín, Tévez und Agüero die Tore choreografieren, wo das bei Brasilien Kaká, Robinho, Luis Fabiano und Elano Blumer tun, hat Lippi bloß Vincenzo Iaquinta, Alberto Gilardino, Claudio Marchisio, Simone Pepe, Antonio Di Natale, Mauro Camoranesi, Giampaolo Pazzini. Er hat sie alle schon ausprobiert bei dieser WM, sie haben alle nichts zustande gebracht. „Wir müssen nur unsere Blockade lösen“, sagt zwar Gilardino, doch als sein Nebenmann Iaquinta ebendies mit seinem Elfmeter zum Ausgleich gegen Neuseeland getan hatte, spielten beide deshalb auch kein Stück besser.
Lippi versucht es nach dem 1:1 gegen den schwächsten WM-Teilnehmer dennoch mit derselben Interpretation, die nach dem 1:1 zum Auftakt gegen das stärkere Paraguay durchaus noch Legitimität beanspruchen konnte. Die Moral stimme, das Team sei steigerungsfähig. „Zweimal haben wir einen Rückstand ausgeglichen, das haben hier noch nicht viele Mannschaften geschafft.“ Nein, es gebe keine Krise, behauptet Marcello Lippi. Und er spekuliert, dass gegen die Slowakei doch vielleicht schon ein Remis zum Weiterkommen reiche.
Wenn die Spiele Italien gegen die Slowakei und Neuseeland gegen Paraguay jeweils 1:1 enden, müsste gar das Los entscheiden. Der italienische Minimalismus wäre also noch steigerbar. FH