: Sie nannten ihn Bison
Michael Essien beherrscht das ghanaische Spiel wie ein Absolutist. Kein Wunder, dass die USA Angst vor ihm haben
aus NÜRNBERG RAPHAEL HONIGSTEIN
Er war bereits als Jugendlicher eine Berühmtheit, und das nicht nur in Awutu Senya, dem ärmlichen Städtchen im Westen von Accra. Aus der ganzen Umgebung reisten die Leute an, um ihn Fußball spielen zu sehen. Mit 15 gewann er mit seiner Schülermannschaft einen Pokalwettbewerb. Er war der überragende Mann gewesen, seine Kameraden trugen ihn auf Schultern über den lehmigen Platz. Drei Tage später war er tot.
Michael Essien erinnert sich nicht an seinen älteren Bruder. Er war erst zwei Jahre alt, als Alex Ackon Essien, den alle nur „Paaquiche“ riefen, plötzlich verstarb. „Meine Mutter hat mir von ihm erzählt“, hat er in einem seiner seltenen Interviews gesagt, „ich habe Fotos von ihm gesehen. Sie war sehr, sehr traurig, dass sie ihn verloren hat.“ Man redet in Ghana ungern über den Tod von „Paaquiche“, besonders über die Todesursache. „Unter mysteriösen Umständen“ sei er gestorben, schrieben die ghanaischen Journalisten. Wenn man heute nachfragt, wiederholen sie diese Formel. Essien selbst schweigt ebenfalls.
Er sagt auch sonst nichts, wenn er es irgendwie vermeiden kann. Der 23-Jährige wurde nach dem 2:0-Sieg gegen die Tschechen zum Spieler der Partie gekürt, brachte aber bei der Pressekonferenz kaum ein Wort heraus. Er ist unheimlich schüchtern.
Man sieht es ihm nach. Von all den „Black Stars“ hatte er am Kölner Abendhimmel am meisten gestrahlt. In den unendlichen Weiten des Mittelfelds hatte er ein kleines, aber enorm gefräßiges Schwarzes Loch gegeben, das die Angriffe der Tschechen immerzu verschluckte; nach vorne war sein Spiel die pure, auf den Punkt konzentrierte Energie. Wie alle Weltklassespieler schien er sagenhaft viel Zeit am Ball zu haben; so viel Zeit, dass er die Partie nach seiner persönlichen Uhr laufen ließ – einfachste Pässe auf die Mitspieler beruhigten oder beschleunigten das Spiel, je nach Bedarf. Die Kollegen hatten die spektakulären Szenen. Er hatte 100.000 gute. Im modernen, von der kollektiven Bewegung bestimmten Fußball kommt es selten vor, dass ein Mann ein Spiel so absolutistisch beherrscht. Die USA, der heutige Gegner (16 Uhr), machen aus ihrer Sorge keinen Hehl. „Essien ist brillant“, sagt US-Trainer Bruce Arena, „wir können ihn nicht machen lassen, was er machen will. Sonst verlieren wir.“
Essien hat einmal behauptet, dass es in seiner Karriere noch nie jemand geschafft hätte, ihn mit fairen Mitteln vom Ball zu trennen. Er weiß: Früher war das anders. Als Kind war er kleiner und schwächer als die anderen, die Großen drangsalierten ihn. Oft ging er weinend nach Hause, die Mutter und seine vier Schwestern mussten ihn trösten.
Bald aber weinten die anderen. Mit zehn Jahren war Essien immer noch klein für sein Alter, aber er entwickelte eine unglaubliche Kraft. Er dribbelte um Bäume herum, manchmal stieß er mit ihnen aus vollem Lauf zusammen. Ihm schien das nichts auszumachen. Er wurde in Jugendmannschaften von Ghana berufen. Im Sommer 2000 kam er beim SC Bastia unter. Die Korsen setzten ihn als Innenverteidiger, Außenverteidiger und Stürmer ein; im zentralen Mittelfeld war er eine Offenbarung. Drei Jahre später wechselte er für 8 Millionen Euro zu Olympique Lyon. Er führte sie zu drei Meisterschaften in Folge. „Es war unmöglich, an ihm vorbeizukommen. Alle hatten Angst vor ihm“, sagt Lyons Kapitän Claudio Caçapa, „wir nannten ihn den Bison.“
Manchmal schafft Essien es nicht ganz, seine Aggression zu kanalisieren. Vielleicht will er ja nur sein weiches Herz hinter den harten Tacklings verstecken. „Ich liebe nichts mehr auf der Welt als meine Mutter“, hat er gesagt. Aba Essien ernährte die fünf Kinder allein, als Bäckerin; Vater James, ein Nationalspieler für Ghana, hat die Familie früh verlassen. Als er zum besten Spieler Frankreichs gewählt wurde und ein Fernsehsender zeigte, wie Aba und die Schwestern stolz in dem Haus in Accra saßen, das er für sie gebaut hatte, kamen Michael Essien die Tränen. Er brach das Interview ab. Ihm fehlten die Worte.