: Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit
Vortrag mit Ausflugscharakter: Andreas Maier hat in Frankfurt die letzte seiner fünf Poetikvorlesungen gehalten
Einen Stall solle er doch bitte suchen, sagt die Frau am Telefon. Einen Stall? Ja, einen Stall, vor den er sich hinstellen könne, er sei doch vom Land. Einen Stall, vor dem man ihn dann filmen könne. Gegenfrage: Wie sie, die Frau, sich denn die Wetterau vorstelle? Antwort: Die kenne sie nicht. Der Film kam nicht zustande, also las der in der Wetterau geborene Schriftsteller Andreas Maier im Jahr 2000 in Klagenfurt, ohne vorher mittels eines Filmes vorgestellt worden zu sein. Einen Preis bekam er dennoch. Das war sozusagen eine zweite Geburt, die nämlich in den Literaturbetrieb hinein. „Der Betrieb“ war der fünfte und letzte Teil von Andreas Maiers Frankfurter Poetikvorlesung überschrieben, ein Vortrag mit Ausflugscharakter, ein Betriebsausflug eben.
In den vorangegangenen Veranstaltungen hatte Maier im Grenzland von Philosophie, Theologie und Literatur das Gebiet abgesteckt, auf dem seine Texte, seine Romane sich bewegen. Das Matthäus-Evangelium gehört dazu, ein Urtext, der für Maier nur zwei Möglichkeiten zulässt: „Entweder ist Matthäus der größte Philosoph, den es je gab, oder Jesus Christus, dem das alles in den Mund gelegt wird, ist Gottes Sohn.“ Wobei das Wort „Gott“ sich auch ebenso gut durch das Wort „Wahrheit“ ersetzen ließe. Wahrheit war der Schlüsselbegriff in der Vorlesung wie in Andreas Maiers Romanen, sei es „Wäldchestag“ oder zuletzt „Kirillow“. „Ich wüsste nichts anderes“, sagt Maier, „als dass die Literatur den Zweck hat, meine Literatur, die ich lese und die ich schreibe, dass sie also keinen anderen Zweck hat, als die Wahrheit zu sagen, nicht explizit, sondern anders.“ Die Autoren, bei denen er diese Wahrheit findet, sind nicht allzu zahlreich. Einer von ihnen ist Dostojewski: „Die hysterischen Höhen und Tiefen seiner Figuren, die ganze Bandbreite seiner Figuren von den total Depravierten bis hin zu den quasi Heiligen, das Seite-um-Seite-Schreiben ums Verrecken, so schnell wie es geht, also auch die Verweigerung der Künstlerattitüde, eine Prosa, die zugibt, dass sie hingerotzt ist, und dabei ein Autor, der mehr als alle anderen alles im Menschen kennt und in aberwitzig vielen dialektischen Stufen dauernd vernichtet, bis zum Schluss eben nur der liebe Gott als die einzige Wahrheit stehen bleibt.“
Ein anderer Maier’scher Gewährsmann ist Wolf Schmidt, ein Friedberger, ein Wetterauer, wie Maier, Erfinder und Hauptdarsteller der Fernsehserie „Familie Hesselbach“, eine geradezu grandiose Fernsehproduktion der Sechzigerjahre, in der sämtliche Figuren sich zwangsläufig und permanent „in einen katastrophischen, dabei aber nie zu Ende kommenden Gesprächsprozess begeben“, wie Maier sagt. Nicht zufällig war die Hesselbach-Episode „Die Erbschaft“ eine der Initiationen für den Roman „Wäldchestag“; Menschen bei einer Testamentseröffnung, auf der die Kommunikation im vollkommenen Chaos endet – ein völlig normaler Zustand. Er kenne, so Maier, kaum Menschen in so genannter Mittellage, weswegen ihn die meiste der gegenwärtig produzierten Literatur eher irritiert: „Wenn ich heute die Literatur um mich herum lese, lese ich interessante Gespräche intelligenter Leute über ausgefallene Dinge. (…) Man reist literarisch gern durch interessante Wüsten oder Länder und hat dort gern interessanten Sex oder eine doch sehr ansehnliche Liebesgeschichte, eine Liebesgeschichte natürlich in New York oder Hongkong, das kommt alles bei den Hesselbachs Gott sei Dank nicht vor, und bei mir auch nicht.“ Weil die Welt nicht interessant ist, auch wenn es die Sehnsucht nach dieser interessanten Welt gibt. Die Wahrheit, so einer der Leitsätze von Wolf Schmidt alias Karl Hesselbach, sei für die Menschen im Regelfall die schlimmste aller Beleidigungen.
Womit man wieder im Literaturbetrieb gelandet ist. Unter die Bücher, sagt Maier, sei er gegangen und habe Menschen gesucht. Dann sei er in den Literaturbetrieb gekommen und habe erwartet, auch dort Menschen zu finden. Ein fundamentaler Irrtum, in einem Lektor einen Menschen zu sehen, wenn man Autor sei und der Lektor den Autor betrachte, aber nicht den Menschen. Unter anderem diese Verwechslung führte möglicherweise zu den Betriebsgeräuschen des vergangenen Jahres, als Andreas Maier zunächst plante, mit seinem Lektor zu einem „eigenartigen Verleger“ zu wechseln und dann doch aus guten Gründen bei Suhrkamp blieb, was erstaunlicherweise weder dem öffentlichen Bild des Verlegers noch dem des Lektors, wohl aber dem des Autors geschadet hat.
„Ich“ hat Maier seine fünf Vorlesungen überschrieben (die nun als Buch in der edition suhrkamp vorliegen), der Mittelteil des Wortes „Nichts“. Sie begannen mit den Enten im Kurpark von Bad Nauheim und endeten mit einer Kohlmeise – „weit bin ich also nicht gekommen“. Das Publikum, das zeigte der lange Beifall, ist gerne mit ihm gegangen.
CHRISTOPH SCHRÖDER