: Ohne Kinder herrscht Grabesruhe
AUS OTZENRATH HENK RAIJER
„Wir sind froh, dass wir endlich hier rausgehen und in das neue Gebäude umziehen“, sagt Irmgard Burg, Leiterin der Janusz-Korczak-Schule in Otzenrath. Das Ende auf Raten in dem todgeweihten Ort sei im letzten Jahr „ziemlich hart“ für die Kinder gewesen. „Die Größeren haben die Untergangsstimmung, die Otzenrath erfasst hat, voll mitbekommen“, erzählt Burg, die seit elf Jahren an der Grundschule arbeitet und 2004 deren Leitung übernommen hat.
Letzter Schultag in Otzenrath. Ein ökumenischer Abschlussgottesdienst und die Zeugnisvergabe in der vierten Klasse runden heute in dem Dorf an der Tagebaukante das Schuljahr ab. Die 135 Kinder werden Abschied nehmen – auf Zeit von Mitschülern und Lehrerinnen, auf immer von ihrer Schule, die nach den Ferien womöglich nicht mehr steht. Der erste Braunkohlebagger hat am Samstag im Abbaufeld Garzweiler II den Betrieb aufgenommen, das 800 Jahre alte Otzenrath ist der erste Ort, der dem Anschlusstagebau in der Nähe von Grevenbroich geopfert wird.
Tatsächlich ist die Atmosphäre im alten Ortskern, in dem neben wenigen Wohnhäusern nur noch die beiden Kirchen und die Gebäude des historischen Ritterguts stehen, bedrückend. Weil die Schule in Otzenrath-neu noch nicht fertig war, wurden die Kinder Tag für Tag mit Bussen aus ihren nagelneuen Heimatorten zum Unterricht nach (Alt-)Otzenrath gekarrt. Schule fand statt, aber inmitten einer menschenleeren Wüste aus verwaisten Straßenzügen, Ruinen und aufgetürmten Bäumen und Sträuchern. Sogar der Friedhof, der wie die am letzten Sonntag „entwidmete“ katholische Kirche dem Schulgebäude gegenüber liegt, ist bis auf vereinzelte Grabsteine inzwischen leer. „Unter diesen Bedingungen so etwas wie Normalität aufrecht zu erhalten, war nicht ganz einfach“, sagt Schulleiterin Burg, die die heutige Abschlussökumene im Otzenrather Pfarrheim unter das Motto „Aufbruch in eine neues Land“ gestellt hat.
Margarete Mehl ist schon vor Monaten aufgebrochen, unfreiwillig wie all die anderen Einwohner von Spenrath, Otzenrath und Holz. Ihr neues Heim am Ortsrand von Spenrath-neu ist zweifellos komfortabler als ihr altes in Spenrath, das schon ihre Großeltern bewohnt hatten. Doch ein Zuhause sei es längst noch nicht, sagt Mehl, die 35 Jahre als Sachbearbeiterin bei der Düsseldorfer Landesregierung tätig war. „Ich schaue auf nacktes Feld, der Garten ist noch keiner.“ Und die Baumstraße, in der die Spenratherin auch am neuen Standort wieder lebt, macht ihren Namen ebenfalls wenig Ehre.
Vor gut 15 Jahren war Margarete Mehl, eine quirlige Endfünfzigerin mit kurz geschorenem, grauen Haar und hellblauer Seidenweste über schwarzem Kleid, nach Spenrath zurückgekehrt – nur um anschließend mit ansehen zu müssen, wie die Firma Rheinbraun sukzessive Grüne, Kommunen und Einzelpersonen im Streit um die Abbaugenehmigung in die Knie zwang. Und Mehl aus ihrem Heim vertrieb.
Heute steht das Efeu verhangene Haus leer und wirkt hohl wie die Eisenfassung, in dem am Ortseingang noch bis vor kurzem auf gelbem Grund der Name Spenrath prangte. Anders als im benachbarten Otzenrath stehen im vormaligen 200-Seelen-Dorf Spenrath die Häuser noch. „Grundstück betreten verboten“, macht jedoch eine Plakette an jedem Giebel in Hof- und Baumstraße die neuen Besitzverhältnisse unmissverständlich klar.
„Ist eigentlich verboten, was ich hier tue.“ Margarete Mehl ignoriert die Anordnung, deren Einhaltung vom RWE-Werkschutz überwacht wird, und öffnet die Tür zu ihrem Haus. „Anfangs kam ich alle zwei Wochen hierher, heute vielleicht noch einmal im Monat“, erzählt sie. „Es ist schwer, das hier einfach aufzugeben. Ich hätte nicht gedacht, dass es so tief sitzt“, sagt Mehl. „Bei jedem Besuch entdecke ich etwas, das ich noch mitnehmen kann“, sagt sie, wischt sich beim Bücken schnell ein paar Tränen aus den Augen und pflückt einige Blätter der Minzepflanze unter der japanischen Kirsche.
Anders als andere Bäume und Sträucher in dem inzwischen verwilderten Garten hält sich diese trotz des für den Tagebau abgesenkten Wasserspiegels noch ganz gut. „Äpfel und Johannesbeeren werde ich in diesem Jahr wohl noch ernten können, das haben sie mir erlaubt“, sagt Margarete Mehl. Dann drängt sie plötzlich zurück ins Haus, zum Ausgang, durch die Tür, die sie nicht mehr abzuschließen braucht, auf die Baumstraße, die tot ist wie der ganze Ort.
Dem Ende nah ist auch die katholische Kirche St. Simon und Judas Thaddäus im Ortskern von Otzenrath. Sie dürfte bis Jahresende abgerissen sein, beim Abschlussgottesdienst an diesem heißen Sonntagvormittag wird der Bau „entwidmet“, das „Ewige Licht“ gelöscht, der Tabernakel sowie die beiden Apostelfiguren in einer anschließenden Prozession nach Hochneukirch verbracht. Margarete Mehl begrüßt Freunde und Nachbarn sowie Pfarrer Ulrich Clancett, der die Messe lesen und das bischöfliche Dekret über die Profanisierung des heiligen Ortes verlesen wird.
„Schmerzlich ist dieses Ende nicht nur für die Gläubigen der Gemeinde, sondern auch aus architektonischer Sicht“, bedauert Clancett den drohenden Abriss des stattlichen, 136 Jahre alten Backsteinbaus. Sie hebe sich durch Anlehnungen an den Aachener Dom von anderen Dorfkirchen ab. Aber dem Strommulti sind auch Gotteshäuser nicht heilig. Und so hat sich Clancett auf großen Andrang vorbereitet und Lautsprecher unter den Linden vor der Kirche aufgestellt. „Gekämpft, gehofft und doch verloren“, drängen seine ersten, Trost spendenden Worte an die Otzenrather aus dem Innern ins Freie. Die verlassen dennoch am Ende, der christlich-religiösen Logik folgend, erwartungsgemäß als „Sieger durch Gott“ sein Haus, das jetzt, nach kanonischem Recht, kein heiliger Ort mehr ist.
Auf dem Vorplatz nehmen sich ältere Otzenrather in den Arm, einige heulen ungehemmt. Margarete Mehl möchte sich zu gern über die RWE-Repräsentanten in der ersten Bank aufregen, über die „Zerstörer von Rheinbraun“. Aber auch sie ist eher traurig: „Ich hätte mir das heute besser gar nicht erst angetan.“