: Das Verständnis der Stille
SPIRITUALITÄT Mit dem Atem zu einer neuen Bewusstseinsstufe: Der Komponist Mark Andre und die Choreografin Canan Erek arbeiten sich in „einS“ zum Zustand des Schwebens vor. Die Elisabeth-Kirche an der Invalidenstraße ist dafür schon mal der richtige Ort
Wie sich mittlerweile herumgesprochen hat, sind Aufklärung und Säkularisierung nicht das Ende von Religiosität. Das Bedürfnis nach Transzendenz hält sich aller Entzauberung der Welt zum Trotz recht hartnäckig. Religionen im engeren Sinne spielen dabei nur noch zum Teil eine Rolle, stattdessen haben spirituelle Mischwarenangebote Konjunktur. Beliebt ist alles, was Körper, Geist und Universum zusammenführt, eins werden lässt. Eine solche Suche nach Spiritualität will das am Samstag in der Elisabeth-Kirche uraufgeführte Stück „einS“ der Choreografin Canan Erek auf die Bühne bringen.
Drei Frauen in Weiß sind schon vor Beginn des Stücks in Bewegung. Sie sitzen zwar auf ihren Hockern, doch atmen sie heftig und hörbar, während das zahlreiche Publikum langsam Platz nimmt. Musiker sind nicht in Sicht. Dann beginnen die Tänzerinnen, über den Boden zu robben, versuchen immer wieder, ein Körperknäuel zu bilden, und bleiben schließlich übereinanderliegen. Ihre Sitze nehmen darauf die Musiker ein, ein Bläserquartett des Kammerensemble Neue Musik Berlin, im Unterschied zu den schlicht gekleideten Tänzerinnen in wallende Kostüme mit rauschenden Röcken gesteckt.
Statt Töne zu erzeugen, atmen oder hauchen die Musiker oft nur in ihre Instrumente, klopfen auf Klappen und Resonanzkörper, manchmal kaum wahrnehmbar. Die Musik stammt vom Komponisten Mark Andre, als Ausgangsmaterial diente ihm seine Komposition „iv4“, im vergangenen Jahr vom Kammerensemble Neue Musik uraufgeführt. Für „einS“ hat er die ursprünglichen Fragmente neu arrangiert und um Improvisationspassagen erweitert.
Überdrehter Leerlauf
Andre, der unter anderem bei Helmut Lachenmann und Gérard Grisey studierte, greift in seinen Werken das Geräuschhafte der Tonerzeugung seines Lehrers Lachenmann auf, verbindet diesen Ansatz aber mit einem spirituellen Verständnis von Stille. So lässt er die Musiker in „einS“ in erster Linie in ihre Instrumente „atmen“, da Atemtechniken häufig zum Erreichen anderer Bewusstseinszustände eingesetzt werden. Bei der Übertragung des Werks aus einer kammermusikalischen in eine tanztheatrale Rahmung geht leider etwas von der Konzentration der Urfassung verloren, doch die Musik kann sich neben der Choreografie mühelos behaupten.
Schwieriger gestaltet sich die choreografische Darstellung. Wirkte das Einswerdenwollen der drei Körper mit ihren fließenden Bewegungen am Anfang noch etwas arg vordergründig, lassen sich die Gesten im weiteren Verlauf nur noch vereinzelt lesen. Das hektische Umeinanderherumrasen der Tänzerinnen, die bloß innehalten, um mit abgehackten Bewegungsmustern im überdrehten Leerlauf stillzustehen, könnte die Festgefahrenheit von Individuen in starren Verhaltensmustern zum Ausdruck bringen. Richtig zwingend erscheint das nicht.
Parodie der Meditationsübung
An anderer Stelle scheint das Einüben von Meditationsübungen parodiert zu werden: Eine Lehrerin macht den Schülern Bewegungsfolgen vor, korrigiert ihre Fehler, bis sich der Ablauf immer schneller zu verselbständigen scheint. Die Musik agiert dazu oft nebenher, auch wenn die Musiker immer wieder in das Geschehen einbezogen werden, den Raum abschreiten oder schon mal eine Tänzerin vom Hocker schubsen.
Einen fast spirituellen Moment von tatsächlich starker Wirkung gibt es ganz zum Schluss. Da singen Tänzerinnen und Musikerinnen ruhige Liegetöne, die langsam an- und abschwellen, ineinandergreifen und so einen musikalischen Schwebezustand erzeugen. Doch ohne Bruch geht auch das nicht: Ein jäher Schrei beendet die Ruhe. Und ein Kind im Publikum fragt: „Wieso schreit die?“
TIM CASPAR BOEHME
■ „einS“, St. Elisabeth-Kirche, 28. bis 30. Juni, 21 Uhr