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Archiv-Artikel

Ein Mittsommeralbtraum

Gegen Angstgegner Deutschland hoffen die Schweden dennoch auf einen Sieg. Nur ein paar irre Weltverbesserer wollen, dass Deutschland gewinnt – damit es in Europa endlich wieder bergauf geht

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Das entscheidende Spiel gegen Deutschland ausgerechnet zu Mittsommer? Am allergrößten Festwochenende? Kein Problem. Das bekommen die Schweden problemlos unter einen Hut. Der erste Feierschub mit Tanz um die „Midsommarstång“, anschließendem Festessen und nachfolgendem Umtrunk findet ja traditionell bereits am Mittsommer-Freitag statt. Das haben sie also heute schon hinter sich. Und nach dem Schlusspfiff in München wird es auf jeden Fall Grund zu einer neuen feuchten Runde geben. Um zu feiern oder den Frust zu ertränken.

Für Schwedens Elf ist es ja nicht unbedingt das Traumszenario, im Achtelfinale ausgerechnet auf Gastgeber Deutschland zu treffen. „Albtraum“ titelte das auflagenstärkste Boulevardblatt Aftonbladet. Konkurrent Expressen wähnte gleich „1 Milliarde singende, heulende, jubelnde und grölende deutsche Fans“ auf der anderen Seite. Das war wohl die gefühlte Stärke des Gegners, nach den alles andere als überzeugenden Leistungen der schwedischen Mannschaft um Trainer Lars Lagerbäck.

Dieser ließ in den letzten Tagen neben neuen Ecken- und Freistoßvarianten vor allem das Elfmeterschießen üben. Deutschlands erste Drangviertelstunde überstehen, hinten alles dicht machen, Miroslav Klose durch den Ex-Mönchengladbacher Teddy Lucic außer Gefecht setzen und wenn es Glücksschüsse von Fredrik Ljungberg und Marcus Allbäck nicht bringen, versuchen sich über die reguläre Spielzeit und Verlängerung zu retten. Oder soll Schweden gar Deutschland gewinnen lassen? Zum besten Nutzen für alle?

Diese ketzerische Meinung formulierte ein Leitartikel im Dagens Nyheter. Seine These: „Deutschland braucht den Pokal am meisten.“ In der wirtschaftlichen Abseitsposition, in der der europäische Fußkranke nach wie vor herumhumple, könne vielleicht ein WM-Sieg den notwendigen positiven Schub liefern: „Und geht es mit Deutschland wirtschaftlich aufwärts, gewinnt ganz Europa.“ Während sich das liberale Blatt ein langes WM-Leben für die deutsche Elf wünscht, damit Bundeskanzlerin Merkel im Schatten des herrschenden Enthusiasmus notwendige Reformen ohne Proteste auf den Weg bringen könne, hält ein politisch weiter links beheimateter Fernsehkommentator ein schnelles WM-Ausscheiden im wohlverstandenen deutschen Interesse: „Sonst wachen sie morgen mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 30 Prozent auf. Und keiner hat’s gemerkt.“ Für die fussballbegeisterten Schweden ist selbstloses Verlieren natürlich kein Thema. Und nachdem sich die Boulevardpresse vom ersten Deutschlandschock erholt hatte, wuchs sprunghaft die Zuversicht.

Viel war auch in Schweden von einer überaus gelungenen Imagekorrektur Deutschlands die Rede, von Charmeoffensive, dem kollektiven Lächeln eines Landes, vom Meer aus Schwarzrotgold: „Deutschland traut sich.“ Seit vorgestern in einer schwedischen Rundfunkreportage auch noch frustrierte Huren zu Wort kamen, deren Erwartungen an Umsatzsteigerungen sich bislang gar nicht erfüllt haben – „Die Fans saufen nur, die wollen keinen Sex“ –, sind auch die Boykottforderungen wegen Sex- und Menschenhandels fast wieder vergessen.

Diese tollen Deutschen könnten sich nun durch einen schwedischen Sieg erst recht beweisen, frohlockten gleich mehrere Kommentatoren. Zeigt wie selbstlos ihr euch darüber freuen könnt, wenn mit Fredrik Ljungberg der erotischste Spieler im Turnier bleibt. Und ihr deutschen Fans tröstet euch über das WM-Ausscheiden eurer Elf mit schwedischen Krimis, einer Einkaufstour bei Ikea oder mit einem Schwedenurlaub.