: „Jetzt wohne ich im Lastwagen“
Verordneter Müßiggang im Stau und Fragen der Entlohnung in Europa: ein Gespräch mit dem Regisseur Stefan Kaegi über Botschafter des Alltags und Politik im Dokumentartheater. Sein Stück „Cargo Sofia – Berlin“ spielt entlang der Transitwege nach Bulgarien und reist selbst ziemlich viel
VON CHRISTINE WAHL
taz: Herr Kaegi, Sie sind bekannt für Ihr dokumentarisches Theater, bei dem statt Schauspielern so genannte Alltagsspezialisten auf der Bühne stehen und aus ihren Lebenswelten berichten: Gerichtsvollzieher, Bestattungsunternehmer oder Modelleisenbahnbauer. Bei Ihrer neuen Performance „Cargo Sofia – Berlin“ wird das Publikum von zwei bulgarischen Fernfahrern in einem teils verglasten Lkw durch Berlin und später durch andere Städte gefahren und macht Bekanntschaft mit Raststätten, Verladerampen oder Lagerhallen. Was interessiert Sie an dieser Welt?
Stefan Kaegi: Die Lastwagenfahrer sind im Prinzip so was wie Maulesel: Vor die Ware gespannt, fahren sie quer durch Europa und haben wahnsinnig viel Zeit. Ich bin selber mal von Sofia bis nach Budapest mitgefahren. Wir haben drei Tage gebraucht. Nicht, weil die Strecke so lang gedauert hat, sondern weil wir erst mal in Serbien zwanzig Stunden im Stau standen.
Also einerseits dieser verordnete Müßiggang und andererseits natürlich auch die Unmöglichkeit, da Geld auszugeben. Der Mythos, dass Lastwagenfahrer überall Nutten heimsuchen, trifft bestimmt nicht auf osteuropäische Lastwagenfahrer in Westeuropa zu. Die haben kein bisschen Geld dafür übrig. Wenn die mal Pornoheftchen dabeihaben, haben sie die wahrscheinlich mitgebracht; genau wie die Konserven, die sie unterwegs essen.
Was hat Sie bei ihrer anderthalbjährigen Recherche am meisten überrascht?
Eine ziemlich krasse Geschichte finde ich, dass viele Lastwagenfahrer Amphetamine einschmeißen, um die langen Fahrtzeiten durchzuhalten. Das ist dann ganz nah an der Sklavenschaft, dass man den Körper so in die Kondition für Arbeit bringt.
Das Zweite, womit ich jetzt so nicht gerechnet hätte: Es gibt Lastwagenfahrer, die ihr Gehalt aufbessern einerseits durch Schmuggeln, zum Beispiel Zigaretten. Und andererseits durch Dieselklau: Die saugen da ein bisschen mit einem Rohr, füllen das um in Kanister und verkaufen den Diesel dann weiter.
Und das erzählen die ganz freimütig?
In der Aufführung nicht.
Aber Ihnen?
Ja, die Geschichten kamen so nach und nach. Wir haben jetzt auch schon anderthalb Monate zusammengelebt, mehr oder weniger.
Wie hat man sich so einen Rechercheprozess konkret vorzustellen; angefangen vom Casting der Lastwagenfahrer?
Die habe ich über Ausschreibungen und Zeitungsannoncen gefunden. Dann bin ich mit ihnen die ganze Balkanreise abgefahren.
Also die, die die Zuschauer im Lkw fiktiv und im Zeitraffer machen: Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Italien, Schweiz, Deutschland.
Ja, da kamen die beiden viel ins Erzählen, und ich habe immer fleißig mitgeschrieben. Mit Serbien verbinden sie viele negative Erfahrungen, weil es da mit am korruptesten zugeht mit der Polizei. Deutsche Autobahnen finden sie erst mal super, weil die so gut asphaltiert sind – von jedem Land haben die was zu erzählen, aber eben nicht die Geschichten, die dir ein Tourist erzählt.
Wie stark bearbeiten Sie die Geschichten noch?
Diesmal gibt es, glaube ich, echt keine gelogene Geschichte. Ich habe eher sortiert.
Könnten Sie sich für die Projekte, die Sie allein oder zusammen mit ihren Kollegen Helgard Haug und Daniel Wetzel unter dem Label Rimini Protokoll realisieren, mit der Zuschreibung „politisches Theater“ arrangieren?
(Lange Pause) Das ist schwierig – deshalb, weil das Wort „politisches Theater“ natürlich in den 70erJahren von Leuten vereinnahmt wurde, mit denen ich im Prinzip nichts zu tun haben will. Weil die damit einfach Botschaften raushämmern wollten. Aber ich bin schon insofern ein politischer Mensch, als ich mich sehr damit beschäftige, wie Arbeitswelten gestaltet und wie Leute wo entlohnt werden.
Damit sind Sie nicht allein. Momentan erlebt das Dokumentargenre nach langer Abstinenz ja eine wahre Renaissance – wohlgemerkt unter völlig anderen Vorzeichen als das der 70er-Jahre. Wie erklären Sie sich das?
Ich kann mir im Gegenteil schwer erklären, warum sich das Theater so viel mit Fiktion beschäftigt hat. Für mich ist die Recherche ein relativ natürliches Vorgehen. Ich habe früher als Journalist gearbeitet und mich dann länger in der bildenden Kunst aufgehalten. Da ist es ja eher normal, dass man kontextualisiert; dass man versucht zu sehen, wie man mit Repräsentationsmechanismen umgeht, die schon da sind.
Sie betonen Ihre Ferne zu dem Heraushämmern der Botschaft in den Siebzigerjahren.
Als ich mit „Torero Portero“ …
… einer Inszenierung mit arbeitslosen argentinischen Pförtnern …
… durch Europa tourte, hat einer dieser Pförtner auf die Frage, ob der denn jetzt Schauspieler geworden sei, geantwortet: Nee, ich bin Botschafter. Und zwar Botschafter meiner Situation. Im Prinzip kriegt man ja alles reingesendet übers Fernsehen. Man weiß irgendwas über den Iran und ein bisschen über Bulgarien oder über Lastwagenfahrer. Aber der Unterschied zum Dokumentartheater und seinen Erzählern ist: Man hat bei sich zu Hause in der Fernsehstube halt die Menschen dazu nicht. Man hat nur die Nachricht.
Es geht also um ein aufklärerisches Moment?
Das ist immer schwer, so alte Worte für sich zuzulassen. Ich würde gern ein anderes sagen.
Ich sage jetzt noch zwei, die Ihnen vielleicht nicht gefallen: Wie halten Sie’s mit Pädagogik und Didaktik, die sich ja bei dokumentarischen Inszenierungen mit hohem Informationsgehalt bei allem Witz gern einschleichen?
Auch das sind natürlich wieder Worte, wo es einen schaudert; wo sich der sozialdemokratische Lehrer einschleicht. Aber dass ich bei einer Veranstaltung was lerne, ist ein positiver Effekt. Ich mag nicht nur zugeflasht werden; ich erfahre gern was über Welten von anderen Menschen, bin ein grundsätzlich neugieriger Mensch und gehe davon aus, dass die Zuschauer das auch sind.
Sie arbeiten international mit großem Erfolg – in Argentinien, Österreich, Polen, Deutschland, der Schweiz … Wo sind Sie zu Hause?
Jetzt wohne ich im Lastwagen. Ich habe tatsächlich kein Zuhause. Vor fünf Jahren wohnte ich in Frankfurt, wollte eine neue Wohnung suchen, hab keine gefunden und dann alles verkauft, was ich hatte. Denn irgendwie ist es jetzt immer so, dass ich ein Projekt nach dem nächsten mache und dann immer eine Gästewohnung in der Stadt habe, wo ich gerade arbeite. Ich habe ein paar Schuhe, zwei paar Hosen und 25 Kilo Fluggepäck.