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Archiv-Artikel

Die Revolte des Ostens

EPOCHENWANDEL Pankaj Mishra erklärt die Geburt des heutigen Asiens aus dem Geist des antikolonialen Denkens seit dem späten 19. Jahrhundert

Gemeinsam ist diesen asiatischen Denkern eine scharfe Abkehr vom Liberalismus

VON STEFFEN VOGEL

Was haben Mao, Gandhi und Atatürk gemeinsam? Sie reagierten 1905 enthusiastisch auf die Seeschlacht bei Tsushima. Unerwartet war es dort der japanischen Marine gelungen, eine russische Invasionsflotte zu besiegen. In seinem neuen Buch beschreibt Pankaj Mishra dies als Schlüsselereignis für einen ganzen Kontinent.

Junge asiatische Intellektuelle erblickten darin das Fanal einer kommenden Wende. Der Westen konnte geschlagen, der Kolonialismus abgeschüttelt werden. Damit begann die Selbstermächtigung Asiens – das Mishra im Sinne der alten Griechen als eine Region von Ägypten bis Japan fasst.

„Aus den Ruinen des Empires“ zeigt, wie sehr es unter den veränderungshungrigen asiatischen Denkern gärte. Reformpläne wurden geschmiedet, revolutionäre Aktionen geplant und antikoloniale Erhebungen vorbereitet. Aber vor allem wurden damals die geistigen Grundlagen für bis heute prägende Ideologien, Bewegungen und Regierungsformen gelegt.

Die Unterwerfung und Kolonisierung hatte Asien einen gewaltigen Schock versetzt. Alte Reiche, die sich als hochentwickelte Zivilisationen sahen, kapitulierten im 19. Jahrhundert vor den ihnen lange unterlegenen Europäern. China etwa besaß noch vor 1800 einen höheren Lebensstandard als jenes Europa, das ihm nun den Freihandel aufzwang.

Nun schien eine Modernisierung nach westlichem Muster unumgänglich. Daher schickten beispielsweise China und Japan Studierende an Unis in Europa und den USA. Doch die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten: Bei ihren Reisen durch den Westen stießen die jungen Asiaten auf tief gespaltene Gesellschaften. Und der unverhüllte Rassismus ließ sie zweifeln, ob Europäer und Amerikaner sie allen Anpassungen zum Trotz jemals als gleichberechtigt respektieren würden.

Asiatische Denker suchten daher nach eigenen Wegen. Dies zeichnet Mishra auf faszinierende Weise nach und verwebt intellektuelle Biografien mit Ideen- und Sozialgeschichte zu einem großartigen und gut lesbaren Epochenporträt. Darin finden sich nicht nur bekannte Protagonisten wie Gandhi, sondern auch dessen enger Freund Rabindranath Tagore, Literaturnobelpreisträger von 1913 und Kosmopolit. Überhaupt ist es Mishras Verdienst, den Blick auf im Westen unbekannte, in Asien aber bis heute enorm einflussreiche Denker zu lenken.

Dabei zeigt er eindrucksvoll das Nachleben dieser Überlegungen. So ist für das Verständnis des chinesischen Staatskapitalismus der Gegenwart ein Blick auf Leben und Werk von Liang Qichao (1873–1929) äußerst hilfreich. Der erste moderne Intellektuelle Chinas war ein konservativer Reformer und Nationalist. Er plädierte für eine Verbindung von Kapitalismus und starkem Staat, der vor allem die Unternehmer ermuntern solle. Sozialer Ausgleich sei wichtig, aber nachrangig. Demokratie übersetzte Liang mit „Gemeinschaftsgeist“. Der „Kult des Staates“ im heutigen China, schreibt Mishra, wurzelt im Denken Liang Qichaos.

Als mindestens ebenso prägend erweist sich Jamal al-Din al-Afghani (1838–1897), ein wandernder Intellektueller, Umstürzler und Fürstenberater. Al-Afghani warb für eine arabische Renaissance und hinterließ ein gemischtes Vermächtnis. Im Iran gilt er als geistiger Vater der Revolution von 1979. Er beeinflusste zudem Rashid Rida, der seinerseits die ägyptischen Muslimbrüder inspirierte. Aber, so Mishra, auch der arabische Frühling verdankt jenem al-Afghani viel, der gegen Ende seines Lebens für die Demokratie eintrat.

Gemeinsam ist diesen asiatischen Denkern eine scharfe Abwendung vom Liberalismus. Ihm begegneten sie mit so unterschiedlichen Ideologien wie Panarabismus und Nationalismus, Konfuzianismus und Sozialismus. Im Lauf der Revolte Asiens entstanden schließlich Synthesen zwischen westlichen und östlichen Vorstellungen – und schroff antiwestliche Strömungen. Allerdings, bemerkt Mishra bedauernd, sei „keine überzeugende universalistische Antwort“ auf die untauglichen politischen und ökonomischen Konzepte des Westens gefunden worden: Nationalstaat und Kapitalismus obsiegten auch in Asien. Das lässt, lautet Mishras bitteres Fazit, den jüngsten Aufstieg des Kontinents als eine Reihe von „Pyrrhussiegen“ erscheinen.

Pankaj Mishra: „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer, Frankfurt/M. 2013, 448 Seiten, 26,99 Euro