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Archiv-Artikel

Der Kampf gegen das System Angst

taz-Serie „Prekäre Leben“ (Teil 3): Der prekär Beschäftigte hat kaum Möglichkeiten, sich gegen Unternehmerwillkür zu wehren. Darunter leiden auch die Gewerkschaften: Ihre Basis zerbröselt weiter, die Mitgliederzahlen sinken. Aber es gibt auch Erfolge

von RICHARD ROTHER

„Kein Lohn unter 7,50 Euro!“ An der Berliner Zentrale der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di am Ostbahnhof prangt die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn weithin sichtbar an der Wand. Das Transparent an dem Gebäude, neu und funktional an der Spree errichtet, symbolisiert Stärke und Schwäche der Gewerkschaften: Einerseits fühlt sich Ver.di potent genug, mitten in der Hauptstadt eine solche gesellschaftspolitisch weitreichende Forderung zu erheben. Andererseits müsste die Gewerkschaft nicht den Staat und seinen Gesetzgeber zu Hilfe rufen, wenn sie auf ihrem ureigenen Feld, der Tarifpolitik, in allen Branchen anständige Löhne durchsetzen könnte. Keine Frage: Die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse – sowohl im Niedriglohn- als auch im qualifizierten Bereich – lässt den Einfluss der Gewerkschaften schwinden.

Katja Karger, Gewerkschafterin im Ver.di-Hauptquartier, kämpf seit Jahren dagegen. Im Frühjahr 2001 organisierte die taffe Mittdreißigerin bei der Internetagentur Pixelpark eine Betriebsratswahl, was bundesweit für Aufsehen sorgte. Karger selbst wurde Betriebsratschefin. Mittlerweile ist sie Mitarbeiterin beim Gewerkschaftsprojekt Connexx.av, das Beschäftigte in den Bereichen Film und Medien vertritt. Dort könne sie ihre „Ideale – Freiheit, Transparenz und Demokratie – leben und weitervermitteln kann“, sagt Karger. Die Betriebsratsgründung bei Pixelpark, damals ein Flaggschiff der New Economy, sieht sie noch heute „als größten Erfolg“, weil sie eine Welle der Rückbesinnung auf die traditionelle Beschäftigtenvertretung ausgelöst habe. Aber auch Misserfolge musste die Industriekauffrau einstecken. So sei es nicht gelungen, in der Berliner Klingeltonfirma Jamba einen Betriebsrat zu gründen oder bei Ebay einen Haustarifvertrag durchzusetzen.

Die Schwierigkeiten, die die Gewerkschaften in neuen Dienstleistungsunternehmen haben, sind immer die gleichen – egal, ob es Internet- oder Kurier- oder Sicherheitsfirmen sind: Kaum jemand bringt den Mut auf, sich für seine und die Interessen seiner Kollegen stark zu machen – aus Angst, Job und Einkommen zu verlieren. Besonders schlimm ist es in Unternehmen, die nur Zeitverträge für das Abarbeiten von Projekten anbieten. Wer sich von einem Halbjahresvertrag zum nächsten hangelt, ist enorm erpressbar – wenn es auf dem Arbeitsmarkt wegen der angespannten wirtschaftlichen Situation keine Alternativen gibt. Dann wird auch der Ton der Kollegen untereinander rauer, berichtet Karger. „Ellenbogeneinsatz, Misstrauen und Neid, Mobbing und Belästigung sind keine Ausnahmen mehr.“

Dabei ist fraglich, ob den Unternehmen die Heuern-und-Feuern-Ausbeutung ihrer Mitarbeiter langfristig nützt. Schließlich können in einem vergifteten Betriebsklima kaum gute Ideen entstehen, die Einarbeitung neuer Mitarbeiter kostet Zeit und Geld. Dass Unternehmer diese Gedanken an sich heranlassen und Betriebsräte als Partner sehen – darauf hoffen Gewerkschafter. Denn selbst in den Unternehmen der Kreativbranchen, die eine Beschäftigtenvertretung haben, ist Wildwuchs nicht unüblich. Gegen permanente Teilzeitverträge haben Betriebsräte rechtlich wenig in der Hand. Und: „Oft scheuen sie die Auseinandersetzung, weil auch sie höllisch unter Druck stehen“, sagt Gewerkschafterin Karger, die Betriebe mit einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 2 bis 35 Prozent betreut. Dabei seien Betriebsräte nicht machtlos: Wenn etwa eine Firma eine Betriebsvereinbarung zum Thema Überstunden abschließen wollen, könnte der Betriebsrat seine Zustimmung an die Bedingung knüpfen, künftig mehr Menschen fest anstatt befristet anzustellen.

Gerade in Berlin ist die Situation für Gewerkschaften insgesamt aber schwierig: In den Bereichen, in denen Gewerkschaften traditionell stark vertreten waren, wurden seit der Wende zehntausende Jobs abgebaut, vor allem in der Industrie und im öffentlichen Dienst. Und wenn neue Arbeitsplätze entstehen, so sind es meist prekäre – Bereiche, in denen Gewerkschaften es schwer haben, Fuß zu fassen: etwa im Hotel- und Gaststättengewerbe, in Callcentern, in den vielen kleinen Dienstleistungsfirmen, die von Auslagerungen großer Betriebe profitieren. Auch der öffentliche Dienst trägt zur Unterminierung der Gewerkschaften bei. Beispiel Kitas: Wo früher ein Tarifvertrag für tausende Angestellte galt, ist nun die Tariflandschaft zersplittert. Viele Kitas sind an freie Träger gegangen, bei denen oft schlechtere Arbeitsbedingungen als im öffentlichen Dienst herrschen.

Kein Wunder, dass die Gewerkschaften stetig Mitglieder verlieren. Hatte Ver.di in Berlin noch vor ein paar Jahren 270.000 Mitglieder, so sind es nun nur noch 200.000. Die Ursache sind nicht nur Austritte aus Frust über Lohnkürzungen oder wegen finanzieller Probleme durch Arbeitslosigkeit – den Gewerkschaften fehlt schlicht die Basis für Nachwuchs. Weil es immer weniger betriebliche Ausbildungsplätze gibt, kommen auch weniger junge Leute mit Gewerkschaften in Berührung.

Nach Jahren mehr oder weniger erfolgreicher Abwehrkämpfe ist in den Gewerkschaften die Fähigkeit zur Selbstkritik gereift. Die Gewerkschaften müssten sich fragen, ob sie mit der traditionellen Tarifpolitik die Menschen erreichen könnten, sagt etwa Ver.di-Sprecher Andreas Splanemann. „Auch die prekär Beschäftigten brauchen eine politische Heimat.“ Besonders problematisch sei es im Niedriglohnsektor. „Das System Angst funktioniert.“ Splanemann kritisiert auch den rot-roten Senat. Der denke nur ans Sparen. „Aber wir brauchen auch eine Perspektive für diese Region.“

Redet man mit Gewerkschaftern, fällt ihnen bei allen Schwierigkeiten immer ein positives Beispiel ein: die Lidl-Kampagne. Denn die macht nicht nur auf schlechte Arbeitsbedingungen bei Discountern aufmerksam, sondern ermuntert Beschäftigte, sich zu wehren – und steigert das öffentliche Ansehen der Gewerkschaften. Dass Lidl Imagewerbung betreibt, führen Gewerkschafter auf ihre Kampagne zurück, die heute ein europaweit recherchiertes „Schwarzbuch Lidl“ veröffentlicht.