: Das Tempo der äußeren Welt
Der Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy war nicht nur früh von der Fotografie begeistert, sondern auch einer der Ersten, die mit Farbdias experimentierten. Zwei Ausstellungen zeigen, wie der technische Fortschritt bei ihm ästhetische Gestalt annahm
von RONALD BERG
Auf den bunten Bildchen im Postkartenformat ist vom Schrecken des Ersten Weltkrieges nicht viel zu sehen. Stattdessen Soldaten in grüner Uniform, die Gesichter mit roten Bäckchen, manchmal auch Bäuerinnen in farbenprächtiger Tracht bei der Feldarbeit oder das Zivilleben in Straßencafés hinter der Front. Selbst die am Drahttelefon verkabelten Soldaten bekommen mit ihren Bleistift-Strippen am Kopf auf den Zeichnungen eher groteske Züge. Mit ihrem verknappten Strich und der bunten Farbigkeit erinnern die Skizzen an Kinderbücher. Vieles wirkt fast wie ein fotografischer Schnappschuss, schnell erfasst, ungestellt und direkt aus dem Leben gegriffen.
Dass diese hübschen Fingerübungen eines offenbar zeichnerisch talentierten 20-Jährigen vom späteren Bauhaus-Meister László Moholy-Nagy stammen, ist nicht zu erahnen. Moholy-Nagy erlebte den Krieg von 1915 bis 1917 auf Seiten der österreichisch-ungarischen Armee, diente an der Front in Galicien, wurde verwundet und kam ins Lazarett. Hier scheinen die meisten der knapp hundert Zeichnungen mehr aus Langeweile denn aus künstlerischem Ehrgeiz entstanden zu sein, die das Collegium Hungaricum nun zeigt.
Nur fünf Jahre nach Ende des Krieges übernahm Moholy-Nagy am Bauhaus in Weimar die Nachfolge von Johannes Itten. Hier wurde nun abstrakt-konstruktiv gemalt – für die realistische Abbildung gab es schließlich die Fotografie. Allerdings hat der gebürtige Ungar während seiner Zeit am Bauhaus sowohl mit seinen theoretischen Schriften wie in seinen experimentellen Arbeiten versucht, die Möglichkeiten des Mediums Fotografie über den gängigen Realismus hinaus zu erweitern. Fotografie und Fotogramm wurden ihm zu präzisen Wahrnehmungsinstrumenten für ein Neues Sehen. Moholy-Nagy erkannte, dass mit dem technisch aufgerüsteten (Kamera-)Auge die Welt in völlig neuen Perspektiven aufgefasst werden konnte. In einer Hinsicht aber stand die Fotografie der Zwanzigerjahre noch vor einer entscheidenden Grenze: die Farbe fehlte.
Was Gastkuratorin Jeannine Fiedler nun am Bauhaus-Archiv präsentiert, kommt deshalb einer kleinen Sensation gleich: 55 Farbaufnahmen von Moholy-Nagy, in den wenigsten Fällen bislang bekannt oder gar publiziert. Es handelt sich um eine Auswahl von etwa 200 erhaltenen Aufnahmen aus dem Bestand von Moholy-Nagys Tochter Hattula aus den USA. Das Material besteht fast ausschließlich aus Kleinbilddias, aufgenommen in den Jahren 1939 bis 1945 auf Kodak-Material. Moholy-Nagy war damals Lehrer an der von ihm gegründeten „School of Design“ in Chicago. Im Bauhaus-Archiv präsentieren sich die Bilder nun als Reproduktionen und in große Leuchtkästen montiert, die die Farben erstrahlen lassen.
Manches sieht nach gehobenem Urlaubsdia aus und hat privaten Charakter, wie einige schöne Porträts etwa von Walter Gropius oder von Moholy-Nagys zweiter Frau Sibyl und den Kindern. Auch ein Selbstporträt ist dabei. Daneben stehen die Experimente mit den neuen technischen Mitteln, abstrakte Kompositionen aus Licht, im Bild zu einem wilden Knäuel farbiger Streifen gebündelt. Bei solchen Lichtzeichnungen oder bei den mit farbigen Filtern arrangierten Stillleben lässt sich Moholy-Nagys Wille zur Gestaltung als Konstruktion aus Licht nachvollziehen, eine „Formgebung, die von der Natur unabhängig ist“, wie er schon 1936 in einem programmatischen Aufsatz schrieb.
Der Vergleich der beiden Berliner Ausstellungen zeigt, was für ein gewaltiges kreatives Potenzial freigesetzt wurde, als die alte Welt im Zeichen des Ersten Weltkriegs kollabierte. Avantgardisten wie Moholy-Nagy sahen die Welt buchstäblich mit anderen Augen, dem „Foto-Auge“, wie es damals hieß. Die neue Sichtweise schloss auch den Film, wenngleich oft als Gedankenspiel, mit ein. So wurde jetzt auch die 1925 in der Reihe der Bauhaus-Bücher veröffentlichte Film-Skizze „Dynamik der Großstadt“ erstmals in Szene gesetzt. Studenten von der Universität der Künste Berlin zusammen mit ihrem professoralen Mentor Andreas Haus haben den Moholy-Nagy-Entwurf aus Fotos, Grafik, typographischen Elementen und Text wie eine Partitur gelesen und daraus eine 7-minütige Dreifachprojektion per Videobeamer gemacht.
Bei dieser Interpretation aus animierten Bildern, historischen Filmausschnitten und neu gedrehten Sequenzen versteht man vielleicht am besten, worin Moholy-Nagys Bedeutung bis heute besteht: Er reagierte auf die veränderten und beschleunigten Lebenszusammenhänge, wie sie das Getriebe der Großstadt exemplarisch verkörpert, indem er mit seiner Kunst diese Wirklichkeit spiegelte und ästhetisch zu durchdringen versuchte. Denn es geht darum, Umwelt nicht nur zu bewältigen, sondern schließlich auch zu gestalten. Im Grunde ist dieser Ansatz heute so aktuell wie zu Moholy-Nagys Zeiten: Das Ziel ist Geistesgegenwart.
„Zeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg“, bis 10. 9., Mo.–Fr. 9–15, Sa., So. 15–20 Uhr, Collegium Hungaricum, Karl-Liebknecht-Str. 9.„Color in Transparency“, bis 4. 9., tägl. (außer Di.) 10–17 Uhr, Bauhaus-Archiv, Klingelhöferstr. 14