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Archiv-Artikel

Auf der Suche nach den wilden Jungs und Mädchen

COOLNESS Bündnis zwischen Künstlern und Kindern: das Theaterprojekt „X-Schulen“ in der Hector-Peterson-Gesamtschule in Berlin-Kreuzberg

Aufgabe vom Regisseur: Denk dir ein Wunschbild, rede nicht drüber und nimm es als Geheimnis mit!

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Klopapier ist Luxus. Man sollte es dabeihaben, wenn man das Theaterprojekt X-Schulen in der Hector-Peterson-Gesamtschule in Berlin-Kreuzberg besucht, denn auf den Schultoiletten gibt es das irgendwie nicht. Dafür aber gibt es Geständnisse. Allein in einer Kabine auf dem geschlossenen Deckel hockend, höre ich endlich die Worte, für die ich vierzig Jahre zuvor, als Schülerin, mein Leben, na ja, oder zumindest die großen Ferien gegeben hätte: Ein Junge flüstert sie aus der Kabine nebenan. Wie er mich bewundert, wenn ich über den Schulhof gehe. Wie er vor Aufregung nicht mehr essen kann. Gut, es klingt ein bisschen auswendig gelernt. Aber viel geändert zu haben scheint sich nicht in der Vorstellung von der Absolutheit des Verliebtseins und den ungelenken Worten, mit denen man durch dieses Gefühl stakst.

Vermutlich lässt sich diese Situation als Theater viel besser genießen als in der Realität. Die kurze Inszenierung, die von Julia Jadkowski und Lea Martini mit Schülern einer zehnten Klasse vorbereitet wurde, ist eine Station auf einem Parcours durch die Schule, die an diesem Tag einen sehr aufgeräumten Eindruck macht. So viel Höflichkeit, gleich im Empfangsraum, wo das Publikum in Gruppen eingeteilt wird; das entspricht nicht ganz dem öffentlichen Bild einer Kreuzberger Schule, von deren rund 500 Schüler über 95 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Sie zeigt sich, kurz vor den Ferien, von ihrer besten Seite: Dafür kann Theater eben auch gut sein.

Dabei ist es nicht so, als wären die Künstler, die 21 Projekte mit über 100 Jugendlichen entwickelt haben, nicht mit Projektionen und Klischees im Gepäck in die Schule eingelaufen. Der Theatermacher Chris Kondek, der auf die Suche nach Gangführern gehen wollte, um von ihnen ein paar Coolness-Posen zu lernen, lernte als Erstes, dass die eigentlich Toughen die Mädchen sind. Zehn kamen zu einem Casting – und tauchten dann nie wieder auf. Die drei aber, die jetzt einen Schnellkurs im Posing für die Besucher machen, haben in knapper Zeit viel auf die Beine gestellt, am Kotti und am Ku’damm Videos von coolen und peinlichen Posen aufgenommen, Interviews geführt und fiktive Szenen gefilmt.

Auf der Suche nach den wilden Jungs war auch der Choreograf Jeremy Wade: Drei von ihnen dürfen jetzt in gerappten Zeilen ihren Hass auf die Schule dem Besucher um die Ohren hauen und ihm dabei Basketbälle ins Gesicht schleudern. Allerdings steht man dabei sicher hinter jener Scheibe, durch die sonst die Lehrer die Schüler in der Turnhalle im Blick behalten. Es geht um Kontrolle, Macht und Ohnmacht, ein ebenso ambitioniertes wie theoretisches Konzept des Choreografen. Doch die Wirklichkeit trickst ihn aus, verlegen macht die drei Kerle ihre öffentliche Zurschaustellung von Wut und darin sind sie wieder glaubwürdig.

„Klar werden die Schüler hier überfordert, sagt Benita Bandow, „aber sie haben auch viel davon. Ihre Welt wird weiter. Sie lernen Verabredungen und Verbindlichkeiten einzuhalten, die Angst vor der Kunst und deren Nichtverstehen zu verlieren und dass Künstler ganz normale Leute sind.“ Benita Bandow ist Lehrerin und Verbindungsfrau zu dem Theater, das der Hector-Peterson-Schule auf der anderen Seite des Landwehrkanals gegenüberliegt, dem Hebbel am Ufer. Dessen Leiter Matthias Lilienthal hat das Format X-Wohnungen vor einigen Jahren erfunden, ein Theaterparcours durch Stadtbezirke: In privaten Wohnungen richten Regisseure, bildende Künstler und Filmemacher kurze Szenen ein. An der neuesten Auflage der Theatertour wird gerade in Südafrika/Johannesburg gearbeitet. X-Schulen ist der erste Ableger davon in einer Schule. Für Benita Bandow ist das Projekt auch ein Geschenk an die zehnten Klassen kurz vor Ende ihrer Schulzeit.

Was dann kommt? Der Filmemacher Züli Aladag hat eine neunte Klasse nach Vorstellungen über ihre Zukunft in Deutschland befragt und lässt sie die Aufsätze vor der Kamera vorlesen. Aus Deutschland wird in ihren Antworten Kreuzberg; mit 25 heiraten zu wollen, ist der größte Konsens, und „trotzdem weiter zu arbeiten“, fügen die Mädchen hinzu. Ihre Vorstellungskraft wirkt sehr genormt, und wo sie nicht genormt ist, fehlen die Bilder. Am Ende gibt der Regisseur ihnen eine Aufgabe. Denk dir ein Wunschbild von Zukunft, rede nicht drüber und nimm es als Geheimnis mit! Ob Künstler die besseren Pädagogen sind? Sicher ist das nicht.

„Klar werden die Schüler hier überfordert, aber sie haben auch viel davon. Ihre Welt wird weiter“

Doch es gibt auch wunderbare Videoinstallationen in der Schule, vielschichtig, empfindsam und überraschend, vom Theaterkollektiv Turbo Pascal und von Tobias Yves Zintel. Da gelingt es, ein gegenseitiges Sichabtasten, Fremdheit und Misstrauen in die Bilder mitzunehmen. Bei Turbo Pascal schauen Schüler uns vom Monitor aus an, gleichgültig und verschlossen erst, trotzig und finster dann, schließlich immer durchdringender. Sie reden darüber, was sie in den Köpfen der Lehrer, und vielleicht auch in unseren vermuten: „Die denken, sie müssten uns befreien.“ „Die wollen, dass wir unsere Kopftücher ausziehen.“ „Die sitzen im Dunkeln mit Kerzen und finden das gemütlich.“

Bei Zintel stellt ein kleiner Junge, zwölf vielleicht, einen automatisierten Dinosaurier vor, „der ist richtig erziehbar“. Und wie er dessen Funktionsweise erläutert, merkt man irgendwann die Parallele: So, mit der richtigen Verhaltensweise aus dem Internet heruntergeladen und gefüttert, hätte die Institution Schule auch am wenigsten Probleme mit ihren Schülern. Eine unheimliche Utopie. Plötzlich wird der Chemie- und Physikraum, den Zintel spacig ausgeleuchtet hat, zu einem Raumschiff, unterwegs in eine Zukunft, wo Kinder und Roboter sich verbünden und andere kaum noch die Regeln des Spiels verstehen

Wie komme ich raus aus der Schule, nach zwei Touren und 14 Stationen? Irgendwie erleichtert, weder Pisa-Studien noch Amokläufern begegnet zu sein, und glücklich, zum Publikum dieses kurzen Bündnis von Künstlern und Kindern gehört zu haben. Vier Tage lang spielen sie, Morgens, nachmittags, abends, bis Sonntag noch, dann ist alles vorbei. Ich hoffe, sie sind stolz auf sich.