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Archiv-Artikel

Sie verstehen sich blind

„Ich konnte mir nicht vorstellen, mich frei im Raum zu bewegen.“

AUS ESSEN LUTZ DEBUS

Die Post, die er gerade aus seinem Briefkasten geholt hat, legt Matthias Brell unter den Scanner. Kurze Zeit später liest eine Maschinenstimme, die ein wenig nach Peter Ustinov klingt, den Brief vor. „Nur Werbung“, seufzt der 40-jährige, der in einem Essener Vorort in einer Dreizimmerwohnung lebt. Dann geht er ins Wohnzimmer, schenkt sich und seinem Gast Mineralwasser ein. Den Hals der Flasche lehnt er an den Mittelfinger, der zusammen mit dem Daumen das Glas hält. Der Zeigefinger neigt sich in das Glas. In dem Moment, in dem seine Fingerspitze nass wird, hört er auf, zu schütten. Matthias Brell ist seit seiner Geburt blind. Das hindert ihn nicht daran, seit kurzem aktiv Fußball zu spielen.

Sport hat Brell eigentlich immer gemacht. Seit seiner Schulzeit spielt er Schach und Torball, ein für Blinde konzipiertes Spiel. Und Tandem fährt er, auf dem hinteren Sattel. Ein Mal in der Woche trifft er sich am Baldeneysee mit seiner Radfahrgruppe. Auf Blindenfußball ist er durch einen Aufruf in der Verbandszeitschrift des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband) aufmerksam geworden – man lud Ende Mai zu einem Workshop ein. Mit dem sehenden Übungsleiter Peter Allwardt und einer blinden, fußballinteressierten Mitspielerin fuhr er mit dem Zug nach Berlin. Zu Beginn des Workshops hatte Brell noch die Hoffnung, an dem internationalen Turnier, das zeitgleich das erste Mal in Deutschland stattfand, teilzunehmen. Aber schnell stellte sich heraus, dass hierfür viel mehr Training nötig war. So verfolgten die deutschen Blindenfußballer die Pokalspiele im eigenen Land nur vom Spielfeldrand aus. Die Teams aus Brasilien, England, Frankreich und Spanien spielten um den „International Blind Challenge Cup“. Die Spanier siegten im Finale gegen Brasilien.

Mit einer Prise Stolz in der Stimme erzählt der frischgebackene Fußballer von seiner Woche in Berlin. Im Nicolaiviertel haben sie mit der brasilianischen und der englischen Mannschaft in einem Restaurant zu Abend gegessen. In der britischen Botschaft gab es einen Empfang mit einem Auftritt von Corinna Mey. Aber das wichtigste Erlebnis der Woche war das Fußballtraining. „Ich konnte mir nicht vorstellen, mich frei im Raum zu bewegen.“

Normalerweise benutzt Brell den Blindenstock, um sich zu orientieren. Mit dem kleinen weißen Ball an der Spitze des Stockes stößt er gegen Hindernisse, erkennt an deren Klang, wo er gerade ist. Der Jägerzaun vor seiner Wohnung hört sich anders an als der Stromkasten, der neben der Treppe zur Haustür steht. Trotz seines ausgeprägten Orientierungsvermögens und Gehörs kann er sich nur langsam auf der Straße bewegen. Auf dem Spielfeld aber sollte er, ohne seinen Stock zu benutzen, schnell einige Schritte vorlaufen, sich drehen, zurück laufen, um wieder an die Ausgangsposition zu gelangen.

Erst hatte Brell Angst, dass man sich über den Haufen läuft. Aber tatsächlich hört man herannahende Mitspieler, sagt er. Der Spielfeldrand ist mit fast mannshohen Plastikplanen bespannt. Diese dämpfen den Schall, so dass die weißen Linien auch zu hören sind. Während des ganzen Workshops blieb Brell unverletzt. Erst als er nach den Arbeitseinheiten einen Spaziergang im Wald machte, stieß er sich die Stirn an einem herunterhängenden Ast.

Sanft ist seine Stimme, ganz unaufgeregt. Manchmal etwas sehr nüchtern. Natürlich könne er auch von seinem Leben berichten. Aber ob das interessant sei, überlegt er etwas besorgt. Die Schulzeit hat Brell im Internat verbracht. Zunächst in Düren, dann, um das Abi zu machen, in Marburg. Anschließend hat er eine Lehre als Bürokaufmann absolviert. Aber eine Stelle hat er nicht bekommen. Nach einer längeren Zeit der Arbeitslosigkeit bekam er einen Job beim Versorgungsamt, als Telefonist. Sicherlich unter seiner Qualifikation. „Beim Versorgungsamt braucht man nun mal keine Kaufmänner“, bemerkt er abgeklärt.

Für Fußball interessiert er sich schon lange. Der Aufstieg von Rot-Weiss- Essen in die 2. Bundesliga hat ihn als gebürtigen Essener gefreut. Und Sympathien hegt er für den VfL Stuttgart. Aber ein Fußballfan, der grölend durch die Straßen zieht, ist er nicht, betont Brell. Lieber hört er sich eine gute Fußballberichterstattung im Radio an. Bei den Stichworten “Bundesligakonferenz“ und „Manni Breukmann“ lächelt er kurz.

Und im Stadion? Wie verfolgt ein Blinder dort ein Fußballspiel? Zur Demonstration legt Matthias Brell ein Video in seinen Rekorder. Ein alter James-Bond-Schinken. Sean Connery fummelt gerade an einer gigantischen Bombe herum. Aus dem Off ertönt eine Stimme: „James Bond befestigt gerade mit einer hellblauen Knetmasse den Zünder. Dann entfernt er sich rasch.“ So ähnlich wird blinden Zuschauern das Geschehen auf dem Platz vermittelt, erklärt Brell. Eine detailverliebte Radioreportage. In den Stadien in Gelsenkirchen, Leverkusen und Dortmund gibt es speziell für Blinde ausgestattete Sitzplätze. Jeder Zuschauer dort bekommt einen Kopfhörer.

Im Gegensatz zum Fußball für Sehende hat der Blindenfußball noch eine andere Eigenart. Rhythmisches Klatschen, Johlen oder gar Schlachtenbummlergesänge sind hier undenkbar. Die Spieler müssen die kleine Glocke im Ball und auch ihre Mitspieler hören können. So ist Blindenfußball fast ein so stilles Spiel wie Schach. Und mit jenem Spiel hat Brell ja viel Erfahrung. Auch ist er von seinem Temprament eher ein Kasparow als ein Kahn.

Gern wüsste Matthias Brell, wie gut er spielen kann. Der Trainer der Engländer, der in jener Woche in Berlin die deutschen Blindenfußballer unter seine Fittiche genommen hatte, wertete nur die Leistung der gesamten Mannschaft. Gut wären sie alle gewesen, sagte der Trainer seinen Spielern hinterher. Aber ob das so stimmt? Und ob er, Brell, eher besser oder schlechter als die anderen gespielt hat? Wie kann er selbst das beurteilen? Es gab in Berlin einen Mitspieler, der erst vor kurzem erblindet war und der schon vorher aktiv Fußball gespielt hatte. Der besaß, so wurde gesagt, ein recht gutes Ballgefühl. Manche Betreuer gewannen zunächst den Eindruck, dass jener Sportler gar nicht völlig erblindet sei. War er aber. Natürlich könne Matthias Brell mit so einem Spieler nicht konkurrieren, sagte ihm der Trainer. Dafür fehle ihm als blind Geborener die räumliche Vorstellungskraft.

Nichtsdestotrotz will Brell weitermachen. Natürlich hilft die Aufregung um die FIFA-WM, das Thema Blindenfußball in die Medien zu bekommen. In einigen Regionen haben sich schon Blindenfußballer gefunden. Hertha BSC und St. Pauli werden vielleicht bald schon über entsprechende Abteilungen verfügen. An der Uni in Tübingen treffen sich Interessierte. Und im Ruhrgebiet? Einige fußballbegeisterte Blinde gibt es, erzählt Brell. Im nächsten Jahr könnte vielleicht schon eine Deutsche Meisterschaft organisiert werden. Auch eine Teilnahme an der Europameisterschaft in Griechenland ist geplant. Und 2008 gibt es die Paralympics in Peking.