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Archiv-Artikel

Von der Liebe zur Zeit der Frühsozialisten

Die Gruppe „Far A Day Cage“ eröffnet das Hildesheimer Theaterfestival „Transeuropa“ mit dem Stück „Gang Bang – eine Betriebsanleitung für erfolgreiches Arbeiten im Kollektiv“

Gang Bang in der Eishalle in Hildesheim. Wie in einer der Hinterhof-Fabrikklitschen sieht es hier aus. Ein fast leerer Raum, Metallstangen auf dem Boden und eine Band in der Ecke. Vier Männer und zwei Frauen kommen berucksackt herein und fangen mit der Musik von „The Verzerrer Schnitzel“ an, ihr neues Zuhause aufzubauen. Sie haben Charles Fourier gelesen und wollen jetzt nach den Ideen des Frühsozialisten leben. Was sie da aus den Metallstangen basteln, ist das Modell des Phalansteriums. Das Phalansterium ist Fouriers Konzept eines verschachtelten Gebäudes, in dem im Idealfall 1.620 Menschen genossenschaftlich zusammenarbeiten sollten. Arbeiten und vor allem sich lieben.

Die Gruppe „Far A Day Cage“ ist aus Zürich angereist und eröffnet das Programm des europäischen Theater- und Performancefestivals „Transeuropa“ in Hildesheim. „Neue Kollektive“ ist das diesjährige Thema.

„Gang Bang – Eine Betriebsanleitung für erfolgreiches Arbeiten im Kollektiv“ heißt das Stück der Schweizer. Es ist ein experimenteller Abend: Eine Geschichte wird nur angedeutet, Situationen werden angespielt. Schnell verebbt eine Szene wieder, wird abgebrochen oder scheitert. Aber das ist Konzept. Es geht ihnen eben auch um die Darstellung des Prozesses.

Die Gruppe um den Regisseur Tomas Schweigen hat sich die Konzepte und Ideen des französischen Gesellschaftstheoretikers über das Leben und Arbeiten im Kollektiv vorgenommen. Dabei konzentrieren sie sich auf einen besonderen Aspekt: Für den 1772 geborenen Fourier war vor allem die freie Liebe, der Motor für eine funktionierende Gesellschaft. Das Ziel aller Bemühungen lautete: Harmonie.

Aber Philippe hat sich das anders vorgestellt. Als seine Tatjana von Jesse zurückkommt und erzählt, wie geil der Sex mit ihm war, versucht er angestrengt, seine Eifersucht zu unterdrücken. Kurz danach hält Jesse einen feurigen Vortrag aus einem Buch Fouriers. Die schüchterne Vera entdeckt, dass Jesse eine Erektion hat und reibt sich an ihm. Er redet aber stoisch weiter. Am Ende klemmt sich Vera über Jesse und schläft in wilden Zuckungen mit ihm. „Was it too tough for you“, fragt sie den kleinen Engländer. Nein. Und plötzlich schauen sie sich ein bisschen verliebt an. Oder ist das nur das Lächeln nach dem Orgasmus?

Eine großartige Szene voller artistischem Humor und bitterer Erkenntnis. Wenn plötzlich die Liebe für Jeden und zu jeder Zeit verfügbar ist, verliert sie ihre Qualität. Sie ist dann gerade kein Motor mehr, sondern der Sand im Getriebe.

Tomas Schweigen, der auch auf der Bühne den Regisseur spielt, erzählt später, dass er bei der Auseinandersetzung mit Fourier verschiedene Phasen durchgemacht hat. „Zuerst war ich von den Ideen fasziniert. Dann kam der Moment, in dem man erkennt, wie furchtbar das eigentlich alles sein müsste.“ Genau diese Phasen macht auch der Zuschauer durch.

Die Arbeit von Far A Day Cage hat einen spielerischeren Dilettantismus. Alles ist bestmöglich getimt, Verknüpfungen zwischen Videoprojektionen und Schauspiel gekonnt inszeniert, aber alles ist immer etwas brüchig. Aber genau das ist gerade wieder die große Kunst, sich auch innerhalb des Produktionsprozesses immer am Rande, immer in der Nähe des Scheiterns zu bewegen. Gerade deswegen ist das Stück so leichtfüßig und niemals bemüht.

Zum fünften Mal veranstaltet der „Transeuropa e.V“., der von Studenten aus dem Fachbereich Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis der Universität Hildesheim 1994 gegründet wurde, dieses Festival. Der Auftakt ist ihnen mehr als geglückt. Far A Day Cage gelingt eine tolle Arbeit, die berührt. Die Gruppe beleuchtet eine komplexe Idee mit naivem Charme und entlarven Fouriers Konzepte mit einem Lächeln. Und einer kleinen Träne. Denn eigentlich stellt sie sich immer noch die Frage: Ist die Utopie nicht vielleicht doch möglich?

Tim Meyer

Das Hildesheimer Theaterfestival Transeuropa dauert noch bis 4. Juli und präsentiert u.a. Aufführungen von Gruppen aus der Schweiz, den Niederlanden und Slowenien. Eine Wiederholung des Stückes „Gang Bang“ gibt es am 1. Juli um 19.30 Uhr. Weitere Informationen unter www.transeuropa-festival.de