: Vögel von ominöser Bedeutung
LITERATURGESCHICHTE Im Rahmen der Ringvorlesung „Tier im Text“ wurde der Rabe auf seine literarische Tauglichkeit hin überprüft
Tiere – je weniger es von ihnen gibt, desto bedeutungsvoller werden sie.
In der Ringvorlesung „Tier im Text“ an der Humboldt Universität – bei der auch noch Roger Willemsen und Sibylle Lewitscharoff zu Wort kommen werden – thematisierte der Literaturprofessor Ernst Osterkamp am Mittwoch den Raben. Nacheinander diente der den Schriftstellern als „Metapher, Medium und artistisches Instrument“. Sie befreiten damit den „mythischen Inauguralvogel“ von seinen „Verkrustungen“. In den Mythen changierte er zwischen Göttervogel und Todesbote, in der Bibel, bei Noah, als unzuverlässiger Kundschafter. Auf diese Weise wurde er, so Osterkamp, „hoffnungslos übercodiert“, so dass er für die Dichter fast nicht mehr zu gebrauchen war.
Mit seiner Verwissenschaftlichung und ausdauernden Beobachtung mythifizierte ihn die Ornithologie dann erneut, indem sie seine besondere Rolle in der Vogelwelt herausstellte – und ihn vermenschlichte. In „Brehms Tierleben“ heißt es etwa über die Raben: „Sie führen ein sehr bequemes Leben.“ Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz stellte aber klar: „Wir vermenschlichen das Tier nicht, sondern vertierlichen den Menschen.“ Seine ersten Forschungstiere waren Dohlen.
Laut Osterkamp ist die Dohle hoffnungslos untercodiert. Als Beispiel erwähnte er Adalbert Stifter, der in seiner „Turmalin“-Erzählung den Raben durch eine Dohle ersetzte, mit der er „dann aber nicht viel anfangen kann“. Die Dohle gehört wie die Krähe zu den Rabenvögeln. Im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ heißt es, dass Raben und Krähen im Volk häufig verwechselt werden. Die Literaturforschung aber darf sie laut Osterkamp niemals verwechseln, „denn die Krähen tummeln sich semantisch ganz woanders“. So wurde der CDU-Politiker Klaus Wohlrabe einmal von Herbert Wehner als „Übelkrähe“ beschimpft: „Er hat sich davon politisch nie wieder erholt.“
Ganz anders verhält es sich mit den Raben. In England zum Beispiel: Wenn sie aus dem Tower of London verschwinden, ist es der Legende nach auch mit der Monarchie vorbei. Die flügelgestutzten Vögel haben dort deswegen einen eigenen „Ravenmaster“. Als mal eines der Tiere, wahrscheinlich von einem Fuchs, getötet wurde, versicherte die Tower-Sprecherin der Presse: „Wir nehmen das Wohlergehen der Raben sehr ernst.“ Real- und Literaturgeschichte, Mythos und Medium gehen ineinander über.
Dickens, not amused
Als Charles Dickens einen „Tale“ mit Raben, „Barnaby Rudge“, veröffentlichte, rezensierte der wegen seines Gedichts über diese Vögel „von ominöser Bedeutung“ berühmte Edgar Allan Poe Dickens Fortsetzungsroman, noch bevor die letzte Folge der Geschichte erschienen war, wobei er den Mörder verriet. Charles Dickens was not amused.
Osterkamp arbeitete sich dergestalt, lichtbildgestützt, in seinem Vortrag durch die literarischen Verwendungen des Rabens im 19. Jahrhundert, vergaß auch nicht, „Den Raben Ralf“ in Christian Morgensterns „Galgenliedern“ zu interpretieren, ebenso wenig Wilhelm Buschs „Hans Huckebein der Unglücksrabe“, und endete – quasi aktuell – nach dem Ersten Weltkrieg: mit Karl Kraus und dessen Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“, in der die Raben als „Kriegsgewinnler“ figurieren: „War immer unsere Nahrung – die um Ehre starben.“ HELMUT HÖGE