: DIE ACHSE DES AKKORDEONS VON CHRISTOPH WAGNER
Die knurrenden Ziehharmonikas
Benny Goodman spottete über das Akkordeon: Es sei wohl am besten zum Blumenpressen geeignet. Ein schlechtes Image machte der Ziehharmonika von Anfang an zu schaffen. In den Zwanzigerjahren gab es erste Versuche, das Odium des Proleteninstruments abzuwaschen. Auf Initiave des weltgrößten Instrumentenherstellers Hohner gründeten sich Akkordeonorchester, die aus dreißig oder mehr Hobbymusikern und durch das Spiel leichter klassischer Werke den Ruf des Instruments heben wollten.
Die Gruppe Accordeon Tribe ist die Westentaschen-Ausgabe eines Akkordeonorchesters. Sie besteht aus fünf Musikern, die zu den weltweit profiliertesten Protagonisten des Instruments zählen: der New Yorker Guy Klucevsek, der Schweden Lars Hollmer, die Finnin Maria Kalaniemi, Bratko Bibic aus Slovenien und der Wiener Otto Lechner. Der Accordion Tribe hat anderes vor, als ein paar Stückchen der Sparte „Classic Light“ zu orgeln. Die Musiker verwandeln ihre Instrumente in Wunderkisten, denen sie die aberwitzigsten Klänge und Melodien entlocken. Da knurrt der Bass wie ein Hund vor dem Knochen, während oben die Melodienlinien perlen – eine ganz eigene Magie verströmend. Manchmal tönt es walzer-melancholisch, dann wieder tango-aufreizend, jazz-beschwingt, folk-verträumt oder blues-verloren. Gelegentlich driften sie tief in neutönerisches Terrain hinein – um kurze Zeit später zu rhythmusschweren Akkorden und hymnischen Melodien zurückzukehren.
Accordion Tribe: „Lunghorn Twist“ (Intuition; www.intuition-music.com)
Die anarchistische Quetschkommode
Trotz der Orchester sprachen die Sachwalter der klassischen Musik dem Akkordeon ab, ein richtiges Musikinstrument zu sein. Schweineorgel, Quetschkommode oder Schifferklavier lauteten die Schmähworte. Das Hinterland ließ sich nicht beirren. Auf den Tanzböden war das Akkordeon weiterhin König. Den anarchischen Impuls plebejischer Musik tragen heute Attwenger weiter, das Ziehharmonika-Schlagzeug-Gespann aus Oberösterreich. Attwenger macht Akkordeonmusik der brachialen Art. Seit nunmehr fast fünfzehn Jahren arbeiten Hans-Peter Falkner (steirische Knopfharmonika) und Markus Binder (Drums und Electronics) an ihrer eigenen Version von Volksmusik. Dass sie dabei zuweilen Punk, Hiphop oder Ambient recht nahe kommen, ist beabsichtigt.
Falkner kommt aus einer Familie, wo seit Generationen Akkordeon gespielt wird. Mit allerlei elektronischen Verzerrern lässt er seine Knopfharmonika so psychedelisch aufjaulen und heulen, als ob Jimi Hendrix oder Sun Ra persönlich die Knöpfe drücken würden. Binder trommelt dazu mit unnachgiebigem Drive einen synkopischen Beat, während er im Maschinengewehr-Stakkato die textlichen Endlosschleifen herunterrattert. Hardcore-Groove und Klanggewitter geben dieser Musik hat eine Wucht, wie man sie nur vom Punk kennt.
Attwenger: „Dog & Dog 2/Remixes“ (Trikont; www.trikont.de)
Das Schifferklavier der Globalisierung
Dem weltweiten Triumph des Akkordeons tat sein schlechtes Image keinen Abbruch. Nur wenige Jahrzehnte nach seiner Erfindung 1829 in Wien tauchte es schon in den entlegensten Winkeln der Erde auf, ob in Lateinamerika, Asien oder der Karibik. Die Geschichte des Akkordeons ist die einer musikalischen Globalisierung.
Selbst in der orientalisch gefärbten Musik Ostafrikas ist das Instrument heimisch geworden, wo es in der Hafenstadt Mombasa am indischen Ozean mit dem indischen Harmonium konkurriert – so zu hören auf der Compilation „Zanzibara 2 – Golden Years of Mombasa Taarab 1965–1975“. Im Taarab-Stil Mombasas schlägt das Akkordeon einen sanften Ton an. Diese Musik, die stark vom Einfluss indischer Bollywood-Filme geprägt ist, liebt die schwülstig-schnulzigen Klänge. Dafür ist das Akkordeon die Idealbesetzung. Es umschmeichelt die Samtstimmen der SängerInnen mit weichem Pathos und umrankt die Töne der arabischen Laute Ud mit geschwungenen Melodien.
Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man es für ein Gewächs Ostafrikas halten, so geschmeidig passt es sich allen Umständen an. Wie in Ostafrika hat sich das Akkordeon weltweit in vielen traditionellen Musikstilen eingenistet. Ob im Chamamé in Argentinien, der Quadrille-Musik der Karibik oder im Forro von Brasilien – überall gibt die Quetsche den Ton an. Mit diesen Klängen kehrte das Akkordeon im Zuge des Weltmusikbooms nach Europa zurück.
„Zanzibara 2 – Golden Years of Mombasa Taarab 1965–1975“ (Buda Musique/Fenn, www.fenn-music.de)