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Archiv-Artikel

Bremst das Tempo!

Gesundheits- und Föderalismusreform überfordern selbst das interessierte Publikum, ihre Folgen sind noch nicht abzusehen. Grund genug, sie jetzt nicht übers Knie zu brechen

Unpolitischer als jetzt während der Fußball-WM wird die breite Öffentlichkeit über Jahre nicht mehr sein

Jede Wette, dass es in der ganzen Republik kein Dutzend Leute gibt, die die Auswirkungen des „Gesundheitsfonds“ flüssig aufzählen können. Dieser Fonds, nur so viel sei hier erwähnt, soll die Einnahmen des allgemeinen Gesundheitssystems umschaufeln. Außerdem wird er die Arbeitgeber entlasten. So jedenfalls wollen es die Spitzen der großen Koalition. Alles Weitere versuchen Sie bitte der Tagespresse zu entnehmen.

Gleiches gilt für die Föderalismusreform. Mit der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern werden sich auch die Geldströme verändern. Das könnte weitreichende Folgen haben. Genaueres wissen wir nicht. Um nur eine Frage zu den Vorgängen der vergangenen Tage aufzuwerfen: Haben die rebellierenden Sozialdemokraten nun etwas damit gewonnen, dass der Bund weiterhin Geld in Hochschulprojekte stecken darf – oder nicht? Heißt das Vetorecht eines einzigen Landes nicht, dass es eine Bundeshochschulpolitik sowieso nie wieder geben wird? Tja.

Offensichtlich verstehen aber auch die Abgeordneten, die heute zur Föderalismusreform und bald zur Gesundheitsreform die Hand heben sollen, nicht mehr davon als der durchschnittliche Zeitungsleser. Und das ist entschieden zu wenig.

Es ist aber der Grund, warum über den Fonds und die Föderalismusreform seit Wochen und Monaten ausschließlich im Insider-Milieu diskutiert wird. Dieses erstreckt sich nur in Teilen auch über die politischen und Wirtschaftsseiten der Zeitungen. Und dies wiederum ist der Grund, warum die Föderalismusreform garantiert – und der Fonds höchstwahrscheinlich kommt. Denn wenn der Widerstand einiger Fachleute kein Echo in der so genannten breiteren Öffentlichkeit findet, richtet er nichts aus. Grundsätzlich zählen Sachargumente in der Politik nur, wenn sie bei relevanten Teilen der Bevölkerung bis zur nächsten Bundestagswahl zu einer Änderung der Parteipräferenz führen könnten.

Es ist ein politisches Paradox: Je unsicherer und unklarer die Auswirkungen von Großprojekten, desto wahrscheinlicher wird ihre Umsetzung – solange die ohnehin Einflussreichen davon profitieren. In diesem Fall ist das zum Beispiel die große Koalition. Sie muss irgendetwas mit dem Namen „Reform“ vorweisen, damit die Leitartikler endlich schreiben und die Leitredner im Fernsehen sagen, Angela Merkel erhöhe das „Reformtempo“. „Tempo“ wird hierbei zum Wert an sich. Tempo als solches verheißt schon Effizienz, Entscheidungsfreude und Disziplin. Es ist ja nicht so, dass Gesundheit oder Föderalismus unreformierbar blieben, wenn erst nach der Sommerpause darüber entschieden würde. Vielmehr verspricht nur „Tempo“, dass Informationen über die Tragweite von geplanten Gesetzen noch nicht die Runde gemacht haben, bevor diese im Kern eingetütet sind. Unaufmerksamer, also unpolitischer als während einer Fußballweltmeisterschaft wird die Öffentlichkeit sowieso für vier Jahre nicht mehr sein.

Hierbei geht es nicht etwa darum, die lästigen Lobbys zu übertölpeln – die werden selbstverständlich rechtzeitig eingeladen, wenn sie ihre eigenen Gesetzentwürfe nicht schon gefaxt haben. Die Repräsentanten der Privatversicherungen saßen bei der Gesundheitsreform sogar mit am Verhandlungstisch. Es geht vielmehr darum, eine ohnehin komplexe Materie erstens weiter zu verkomplizieren und hierbei zweitens die Entscheidungsgeschwindigkeit zu erhöhen. Ziel ist, dass diejenigen, die nachher alles bezahlen, sich dies vorher nicht ausrechnen können.

Komplexität und Tempo sind zu zwei entscheidenden politischen Faktoren geworden. Sie wiegen nicht nur schwerer als das Sachargument, sie übertünchen auch den Interessenkonflikt. Es ist recht wohlfeil von der politischen Theorie à la Niklas Luhmann zu behaupten: Die Politik versucht verzweifelt, die immer schon vorhandene Komplexität von Systemen mit den Kategorien „Interesse“ oder „Sinn“ zu vereinfachen, damit sie steuerbar bleiben.

Ja – die Dinge sind oft schwieriger, als man denkt. Aber nein – die Politik hat nicht das geringste Interesse, sie zu vereinfachen. Der großkoalitionäre Reformalltag legt ebenso wie zuvor der rot-grüne das Gegenteil nahe: Die Politik nutzt diese Komplexität – und steigert die Verwirrung durch künstlich erzeugten Zeitdruck sogar, um den Prozess im Sinne der mächtigsten Interessen zu steuern.

Das heißt umgekehrt nicht, dass Vereinfachung und Langsamkeit Werte an sich sind. Die Bierdeckelreformen sind solche, die in der Regel die Bestverdiener entlasten sollen. Aussitzen dient in der Regel dazu, die Herstellung von mehr Gerechtigkeit zu verhindern. Es muss aber die Möglichkeit geben, die Faktoren Komplexität und Geschwindigkeit als solche zu diskutieren. Dies darf nicht autoritär oder bevormundend sein – liebe Leute, unsere Idee ist genial, ihr versteht das bloß nicht. Es darf auch nicht zur Entpolitisierung beitragen – liebe Leute, die Sache ist derart komplex, ihr werdet sie ohnehin nie verstehen.

In der Wissenschaft wird die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit von Sachverhalten durch Fußnoten angezeigt: Klein stehen unterm Haupttext die Hinweise auf andere Texte, in denen noch einmal hintergründigere, neue Aspekte geschildert werden. Die politmediale Öffentlichkeit muss – schon aus Gründen der Konkurrenz – ohne Fußnoten auskommen. Der hochverdichtete wissenschaftliche Text taugt nicht zur Verständigung in der politischen Arena.

Die große Koalition rüttelt an Strukturen wie dem Gesundheitssystem, die das Land bisher getragen haben

Allein deshalb aber kann das absurde, entmündigende Informationsgefälle zwischen den politischen Entscheidern und selbst der interessierten Öffentlichkeit nur durch den Faktor Zeit wenigstens im Ansatz bekämpft werden. Es ist eine merkwürdige Allianz zwischen manchem Unions-Ministerpräsidenten und manchem Gewerkschaftsführer, die vorgeschlagen haben, bei der Gesundheit auf die Bremse zu treten – und sicherlich verfolgen Edmund Stoiber wie Michael Sommer damit auch je eigene Ziele. Doch in der Sache haben sie Recht.

Diese große Koalition schafft Strukturen ab, die die Republik ausmachten, die das Land trugen, die – im Fall des Gesundheitssystems – weltweit beneidet und kopiert wurden. Die große Koalition sagt uns aber nicht, welche Folgen das haben wird. Es gibt nicht einmal einen Minimalkonsens der Fachöffentlichkeit darüber, was der Fonds als Ersatz für das 120-jährige Bismarck’sche Systems bewirken soll – und wird. Ausgeschlossen von der Meinungsbildung sind nicht nur diejenigen, die sich sowieso nie interessieren. Sondern sogar diejenigen, die sich schon aus Berufsgründen zu interessieren haben.

Das richtige Maß an Diskussion und Konsensproduktion vor einer politischen Entscheidung lässt sich nicht in Kilo oder in Stunden bestimmen. Aber was jetzt so während der Fußball-WM alles beschlossen und auf dem offiziellen Gesetzgebungswege bestimmt nicht mehr rückgängig gemacht wird, ist mit Sicherheit eine Schande für die Demokratie. ULRIKE WINKELMANN