: Angela Merkels Viertelfinale
Heute muss die Kanzlerin die wichtigste Abstimmung seit Amtsantritt gewinnen. Die Union versteht ihren Pragmatismus zunehmend als Opportunismus
VON LUKAS WALLRAFF
Heute wird es ernst. Für die deutsche Fußballmannschaft und für die deutsche Kanzlerin. Im Olympiastadion entscheidet sich, ob die Weltmeisterschaft ein großer Erfolg oder eine kleine Enttäuschung für die Gastgeber wird. Im Bundestag muss Angela Merkel vorher die wichtigste Abstimmung seit ihrem Regierungsantritt gewinnen. Die Föderalismusreform ist Merkels Viertelfinale. Nur wenn sie heute eine Zweidrittelmehrheit bekommt, darf sie auf eine schnelle Einigung auch bei der Gesundheit und den Unternehmensteuern hoffen – und Jürgen Klinsmann entspannt die Daumen drücken.
Wenn alles gut geht, bewegt sich Merkel noch eine Woche zwischen den Parallelwelten Politik und Fußball hin und her. Egal wie die WM am Ende ausgeht, Merkel hat dabei eines schon gewonnen: ein bisschen Sympathie. Sie konnte zeigen, dass sie keine Politikmaschine, sondern ein Mensch ist. Die Bilder von der Kanzlerin auf der Tribüne, die neben dem versteinerten polnischen Präsidenten ausflippt, werden im Gedächtnis bleiben. Zum ersten Mal sah man Merkel so – unkontrolliert. Das war neu und es kam gut an. „Es gibt Wichtigeres als Fußball“, heißt es in einem Radiospot, „aber nicht jetzt.“ Dieses Gefühl lebte auch Merkel aus. Genau im richtigen Moment. Beim Drama gegen Polen ließen sich viele vom Fußballfieber anstecken, die dagegen immun schienen. Und es sah so aus, als ob selbst die Kanzlerin in diesem Moment an nichts anderes mehr dachte. Doch während die meisten Fans auch in den Tagen danach an nichts anderes mehr dachten, schaltete Merkel sofort wieder um. Auf Arbeit.
Am nächsten Spieltag weckte sie ganz andere Gefühle. Auch das wird im Gedächtnis bleiben. In den Fernsehnachrichten in der Halbzeitpause erfuhren die Zuschauer, gerade noch beseelt von der lockeren Führung gegen das chancenlose Ecuador, dass die Kanzlerin Deutschland als „Sanierungsfall“ bezeichnet hatte. Die drastische Wortwahl hielt sie für nötig, um zu erklären, warum weitere harte Einschnitte und höhere Mehrwertsteuern leider unumgänglich seien: weil Rot-Grün den Hauhalt kaputtgemacht habe. Ein verstecktes Foul gegen den Koalitionspartner – und ein Signal. Sanierungsfall mitten im deutschen Siegesrausch! Da war sie wieder: Merkel, die knochentrockene Machtfrau, kühl, analytisch und, wenn es sein muss, auch brutal. Jene Merkel aus dem Wahlkampf, die man fast vergessen hatte: Antreiberin der eigenen Partei, der SPD und der angeblich müden Republik. Merkel, Mutter aller Reformen, aber nicht Mutter der Nation. Jetzt wirkte sie vor allem – wie eine Spielverderberin. Es gibt, so machte sie den Leuten klar, Wichtigeres als Fußball, auch jetzt.
Merkel ist das harte Wort vom Sanierungsfall nicht herausgerutscht. Sie hat es am nächsten Tag im Parlament wiederholt und ihre Leute sorgten bei Hintergrundgesprächen dafür, dass die Botschaft auch bei den Journalisten ankam, die sie überhört hatten. Es war ihr also wichtig. Bei aller Freude über Sympathiepunkte: Merkel ist klar, dass der momentane Rausch, in dem die Deutschen alle Probleme auszublenden scheinen, wieder vergehen wird. Früher oder später wird Merkel nur noch an ihrer Politik gemessen. Niemand soll dann behaupten können, sie habe wegen der WM ihren Job vergessen. Deshalb peitscht sie jetzt die Föderalismusreform durch, deshalb erhöht sie den Zeitdruck für die Einigung auf weitere Projekte: Die Eckpunkte zur Gesundheitsreform sollen schon am Sonntag, die Reform der Unternehmen- und Erbschaftssteuern bis Mitte Juli beschlossen werden – auf jeden Fall noch vor der Sommerpause.
Oberste Cheerleaderin, dann wieder Spaßbremse – Merkels ambivalente Zeichen während der WM sind typisch für ihren bisherigen Regierungsstil. Seit dem Einzug ins Kanzleramt hat sich Merkel auf eine rhetorische Gratwanderung begeben. Einerseits versucht sie den Eindruck zu vermitteln, dass es dem Land mit der großen Koalition viel besser geht als vorher. Eine Föderalismusreform zum Beispiel hat Gerhard Schröder nie durchsetzen können. Andererseits muss Merkel, als CDU-Chefin, immer wieder deutlich machen, dass es dem Land noch viel besser gehen würde, wenn sie ohne die SPD regieren könnte. Allzu große Zufriedenheit mit der Regierung ist also nicht erwünscht. Heile-Welt-Stimmung darf und will Merkel partout nicht ausstrahlen – schon gar nicht gegenüber Lobbyisten wie denen vom BDI, die ungeduldig nach wirtschaftsfreundlicheren Reformen schreien. Selbstlob für die eigene Arbeit ja, Selbstzufriedenheit auf keinen Fall: Dieses Dilemma ist kaum aufzulösen, es wird in Merkels öffentlichen Äußerungen häufig spürbar. Mal preist sie das Bündnis mit der SPD hochtrabend als „Koalition der neuen Möglichkeiten“, mal nennt sie die Regierungsarbeit tiefstapelnd eine „Politik der kleinen Schritte“.
Solche Widersprüche sind bei einer Koalition zwischen rivalisierenden Parteien programmiert, Merkel machen sie jedoch besonders schwer zu schaffen. Denn gerade sie war ja mit einem besonders radikalen Reformprogramm angetreten. Nur ein kompletter Politikwechsel, so ihr Credo, könne das Land aus der Misere bringen. Andere denkbare Unionskanzler, wie Edmund Stoiber, könnten mit all den Kompromissen und langsamen Schritten der zwei Großen vielleicht besser leben, doch Merkel hatte die Maßstäbe verschoben. Im Vergleich zu ihrer Brachialrhetorik aus dem Wahlkampf kann jede Zwischenbilanz, die sie jetzt vorlegt, und jeder Kompromiss, den sie jetzt als tragfähig verkaufen muss, nur mager aussehen. Der Kündigungsschutz wird zwar weiter gelockert, aber noch nicht vollständig abgeschafft. Die Unternehmensteuern sinken, aber noch nicht auf null. So finden die nimmersatten Arbeitgeberverbände reichlich Gründe für Proteste, und zu Merkels Leidwesen können sie sich dabei auf ihr eigenes Wahlprogramm berufen. Wenn ihr früherer Wunschpartner Guido Westerwelle im Bundestag den gekränkten Liebhaber spielt und sagt „Sie haben mich persönlich enttäuscht“, dann schaut Merkel meistens leicht pikiert, als würde sie sich fast schämen. Man weiß nur nicht genau, wofür. Sind es ihre Versprechen von einst, die sie bedauert? Oder ist es ihre Unfähigkeit, sie zu erfüllen?
Oft flüchtet Merkel sich in Floskeln, um die Diskrepanz zwischen Anspruch und Regierungswirklichkeit zu überspielen. Dann stellt sie neue Reformen für den Arbeitsmarkt in Aussicht, die kommen werden – irgendwie, irgendwann und irgendwo. Manchmal wagt sie es, dezidiert von alten Positionen abzuweichen. Wie bei den Verhandlungen über das so genannte Gleichbehandlungsgesetz. Sie versuchte unideologisch vorzugehen – und wurde prompt zum Opfer der eigenen Propaganda. Die EU-Richtlinien zum Schutz vor Diskriminierung hatte sie vor der Wahl als „Bürokratiemonster“ gegeißelt und lauthals versprochen, eine Regierung unter ihrer Führung werde sie, wenn überhaupt, höchstens „eins zu eins umsetzen“. Dass dies Unsinn war, sah sie als Kanzlerin schnell ein. Wenn man ethnische Minderheiten und Frauen zusätzlich schützen muss, wie es die EU vorschreibt, spricht einiges dafür, auch Behinderte und Senioren mehr Rechte einzuräumen – nicht nur, weil die SPD das so wollte. „Das habe ich bewusst so entschieden“, erklärte Merkel ihren Sinneswandel und räumte ein: „Eins zu eins umsetzen, das würde ich so nicht mehr sagen.“ Vor allem aber sah sie in dem Gesetz eine Verhandlungsmasse. Zur Überraschung von Kurt Beck bot sie in nächtlicher Runde ein Tauschgeschäft an: Die SPD könne die Antidiskriminierung samt Schutzrechten für Schwule kriegen, wenn sie im Gegenzug weitreichenden steuerlichen Vergünstigungen für Landwirte zustimmt, die wiederum der CSU sehr wichtig waren. Das schien ihr ein guter Deal. Viel Geld für ein materiell billiges Gesetz. Doch Merkel unterschätzte die nachhaltige Wirkung ihrer Wahlkampfreden. Die CDU-Basis war mit dem neuen Pragmatismus überfordert. Wem sollte sie nun glauben, der Oppositionsführerin Merkel, die das Gesetz verdammte, oder der Kanzlerin Merkel, die es gar nicht mehr schlimm fand? Die Aufregung schien kaum noch einzudämmen, selbst der Bundespräsident meldete sich mit Kritik zu Wort. Nun war Merkel überfordert und ging in die Defensive. Sie habe „nicht die Kraft gehabt“, die Wünsche der Senioren-Union abzuwehren, bekannte sie auf einmal. Selbst wohlgesinnte Parteifreunde verstanden sie nicht mehr. Die Antidiskriminierung wurde zum Symbol für Merkels Abkehr von der reinen Unionslehre, für Merkels Prinzipienlosigkeit. Den Eindruck, sie schwanke opportunistisch hin und her, verstärkt sie selbst – durch ihren Verzicht auf klare Zielbeschreibungen. Weder in der Gesundheits- noch in der Steuerpolitik hat sie genau benannt, was sie erreichen möchte. Festlegungen vermeidet Merkel tunlichst. Und was noch viel schwerer wiegt: Ihr Gesellschaftsbild bleibt nebulös.
So spricht einiges dafür, dass Merkel die Familienpolitik der CDU so verändern möchte, dass auch junge Großstadtmenschen ihre Lebenswirklichkeit wiederfinden. Aber sie hat nicht den Mut, nötige Konflikte offen auszutragen. Sie schickt andere vor. Sie lässt ihre Ministerin die Vätermonate beim Elterngeld erklären und ihren Generalsekretär das Ehegattensplitting in Frage stellen. Merkel wartet ab, wie solche Vorstöße ankommen, und hält auf Parteitagen das christliche Menschenbild in Ehren. Gut möglich, dass sie der CDU den Abschied von alten Werten mit materiellen Vorteilen für gut verdienende Eltern schmackhaft machen möchte. Aber auch das deutet sie nur an. Ihre Unsicherheit gegenüber der Gefühlswelt der Partei hält an. Sie wirkt immer noch wie eine Fremde, eine Suchende. Die Skepsis in der CDU wird durch die Kompromisse mit der SPD gesteigert. Dass sie anders denkt als der westdeutsche Parteiapparat, lässt Merkel vergleichsweise modern aussehen. Es macht sie aber auch permanent angreifbar – parteiintern.
Die nächste Chance, dieses Dilemma aufzulösen, bietet sich ihr schon bald, beim CDU-Wertekongress im August. Wenn Merkel ihr Lob für Klinsmann ernst meint, könnte sie bei dieser Gelegenheit die wichtigste Lehre des Bundestrainers beherzigen: Volle Attacke – und wenig Rücksicht auf den eigenen Laden.