: Das Recht der Zeit
Vor 100 Jahren brannte der Hamburger Michel. Die Bürgerschaft entschied sich sofort für eine Rekonstruktion statt für einen Neubau und löste damit eine reichsweite Debatte aus: Die Fraktion der progressiven Städtebauer hielt dagegen, „dass das Imitieren eines Kunstwerks nicht ein Kunstwerk zeugt“
von Gernot Knödler
Der Turmwächter Carl Beurle hat seinen Versuch, den Hamburger Michel zu retten, mit dem Leben bezahlt. Am 3. Juli 1906 um 14.22 Uhr morste er an die Feuerwehr: „Hier im Turm Groß Feuer.“ Zuvor hatte er noch versucht, den entstehenden Brand im unteren Teil des Kirchturms einzudämmen. Als ihm die Vergeblichkeit dieser Bemühungen klar wurde, stieg er noch einmal zu seiner Turmstube hinauf, um Alarm zu schlagen. Beim Abstieg muss er im Rauch und den Flammen umgekommen sein.
Der Brand war durch Lötarbeiten an der Südseite des Turmes entstanden. Er breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Knapp eine Stunde nach Beurles Meldung stürzte der Turm in sich zusammen. Tausende von Menschen schauten zu. Viele Fotografen von Rang dokumentierten das Spektakel aus den verschiedensten Blickwinkeln.
Einen Tag nach dem Unglück beschloss die Bürgerschaft, eine Kommission für den Wiederaufbau einzusetzen. Er erachte es „für eine Ehrenpflicht Hamburgs, dafür Sorge zu tragen, dass das schönste und edelste Bauwerk unserer Stadt demnächst wieder so, wie es uns Hamburgern ans Herz gewachsen, sich aus der Asche erhebe“, teilte der Senat in der Sitzung mit – eine Meinung, wie sie von den Mitgliedern der Kommission einhellig bestätigt und vom Kirchenvorstand geteilt wurde.
Unter Architekturfreunden war diese Position höchst umstritten. Die barocke St. Michaeliskirche, in den Jahren 1751 bis 1762 nach Plänen von Johann Leonhard Prey und Ernst Georg Sonnin errichtet, galt zwar als eine der bedeutendsten protestantischen Kirchenbauten Deutschlands. Sie hatte aber selbst eine Hallenkirche aus der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg ersetzt, die 1750 nach einem Blitzeinschlag abgebrannt war.
Obwohl die Entscheidung gefallen war, startete das Magazin „Hamburg - Zeitschrift für Heimat und Fremde“ im Januar 1907 eine „Enquête“ zum Wiederaufbau. An der Debatte beteiligten sich namhafte Architekten aus dem ganzen Reich. Tenor der Kritiker: Eine Kopie könne nur ein Abklatsch sein; die eigene Zeit habe das Recht, eine eigene schöpferische Lösung zu suchen.
In den Zuschriften äußerte sich ein gerüttelt Maß an Unzufriedenheit mit dem eigenen Zeitalter. Könnte man erwarten, dass der Turm „in neuer Art schöner wird als er früher gewesen, so wäre es töricht, ihn nicht in neuer Art auszuführen“, fand der Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann. „Nun ist aber leider unsere architektonisch-künstlerische Leistungsfähigkeit im Allgemeinen wesentlich geringer, als sie es in der Zeit war, aus welcher der Turm der Michaeliskirche stammte.“ Professor A. Messel aus Berlin schrieb: „Ich habe zu unserer Zeit nicht das Vertrauen, dass man den rechten Mann wählen würde.“
Es sei zweifelhaft, „ob es in der heutigen Zeit möglich ist, die Formen einer früheren Kunstperiode getreu nachzubilden“, gab der Hamburger Landgerichtsdirektor Gustav Schiefler zu Bedenken. „Die Herren sehen nicht ein, dass sie zwar fremde Formen, nicht aber fremden Geist kopieren können“, argumentierte der Dresdener Professor Cornelius Gurlitt. Es sei „nicht möglich, mit fremdem Kopf zu denken“. Eine Rekonstruktion könne daher allenfalls ein „gelehrter Abklatsch“ werden. Eine Kopie sei immer Zeugnis der Schwäche und nicht im Stande, „kraftvolle Erinnerungen zu wecken“, urteilte der großherzoglich-badische Baumeister A. Neumeister aus Karlsruhe.
Der spätere stadtbildprägende Hamburger Oberbaudirektor Fritz Schumacher betonte den künstlerischen Charakter der Architektur: Dass das Imitieren eines Kunstwerks kein Kunstwerk zeuge, gelte bei anderen Künsten als Binsenweisheit. Wer glaube, ein Gebäude anhand von Zeichnungen im Maßstab 1:50 nachbauen zu können, habe keine Ahnung von Architektur. „Nicht das, was man in Zentimetern festlegen kann, gibt die Musik eines Werkes; in dies rohe Schema geheimnisst erst die Hand des fühlenden Meisters den Zauber der Wirkung, wenn er das Detail in natürlicher Größe schafft.“
Neumeister proklamierte das Recht, „unsern Geist, unsere Kunst in einem Haus zu verkörpern, das ein Wahrzeichen bedeutet“. Schiefler fand, jede Zeit habe sogar „die Pflicht, den lebenden schöpferischen Geistern Aufgaben so groß und viel sie kann zu stellen“. Der Bau einer großen Bürgerkirche sei eine seltene Gelegenheit.
Senat und Bürgerschaft ließen sich davon nicht beeindrucken: Innerhalb von sechs Jahren ließen sie die Kirche nach Zeichnungen von Julius Faulwasser wiederherstellen. Über den Fundamenten des Turms und den erhaltenen Wänden des Schiffes wurden Stahlträgerkonstruktionen statt der früheren Holzaufbauten errichtet. Des weiteren wurden Bimsbetonplatten für den Feuerschutz und maschinengefertigte Ziegel für das Verblenden der Fassade verwendet. „Angesichts der Einmütigkeit bei dem Entschluss zum rekonstruktiven Wiederaufbau mag es überraschen, wie wenig die historisch vorgegebene Materialität Beachtung fand“, stellt Volker Konerding vom Hamburger Denkmalschutzamt in einem aktuellen Aufsatz zum Wiederaubau fest.