: Momentan ist echt stressig
PAUSE Der Soziologe Hartmut Rosa hetzt. Vortrag, Seminar, Interview. Keine Zeit. Dabei ist sein Name vor allem mit einem Thema verbunden: Entschleunigung. Auch persönlich fragt er sich: Wie viel Tempo verträgt das Leben?
■ Leben: Rosa, 48, ist Sozialphilosoph an der Schiller-Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs Erfurt. Er wurde mit der Studie „Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne“ habilitiert.
■ Lesen: Seitdem ist er einer der medial gefragtesten Gesprächspartner zum Thema geworden, manche nennen ihn „Vordenker der Entschleunigung“. Rosa selbst warnt: Die Entschleunigung des Einzelnen bremse das gesellschaftliche Tempo nicht. 2013 erschien von ihm „Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“.
VON OLIVER HOLLENSTEIN
Die Resonanz kam in Gestalt eines Kätzchens. Es saß vor der Haustür, maunzte, und als dann noch der Regen kam, fand der Professor, dass das ja nun auch kein gutes Leben sei dort draußen für so ein Tier. Drei Tage später läuft der kleine Kater durch Hartmut Rosas Wohnung, unter dem Wohnzimmertisch durch, auf dem Dutzende, teils unausgepackte CDs liegen. Mit einem Satz springt er auf Rosas Schoß. „Du brummst so, ich sollte dich doch Traktor nennen, was, Shaky?“, sagt Rosa wie eine Großtante am Kindergeburtstag.
Hartmut Rosas Hände sind ungewöhnlich groß, das fällt auf, sobald er zu reden beginnt. Er startet langsam, kontrolliert, doch es dauert nicht lange, dann werden seine Sätze schneller und schneller, dann verknoten sich die Finger, fahren wieder auseinander, malen große Bögen in die Luft. Man versteht dann – nun ja – schnell, warum gerade Rosa vor acht Jahren ein Buch geschrieben hat, das „Beschleunigung“ heißt und erklärt, warum wir modernen Menschen uns immer abgehetzter fühlen.
Doch gerade sitzt Rosa, 48, zu Hause in Grafenhausen im Schwarzwald auf dem Sofa, sieht aus dem Fenster auf die Schweizer Alpen und streichelt den Kater, den er Shakespeare genannt hat, weil er als Erstes an dem Regal mit den Shakespeare-Büchern geschnuppert hat. „Ich hab im ganzen Dorf rumgefragt, wem er gehört“, sagt Rosa. Die Stimmlage rutscht wieder nach oben. „Aber irgendwie bist du ja auch schon eine Resonanzachse für mich geworden, was, Shaky?“
Jena, 9.55 Uhr. Rosa im Büro, 25 Minuten zu spät
Resonanz ist die Antwort auf die Frage, die Rosa alle gestellt haben, seit „Beschleunigung“ zum Wissenschaftsbestseller und er selbst zum Glückscoach wider Willen wurde. Rosa hat sie lange gesucht. Resonanz ist gewissermaßen das Gegengift zur Beschleunigung: das Gefühl, sich mit der Welt verbunden zu fühlen. Der Widerhall der Welt, ein Moment, an dem alles Sinn ergibt, etwa weil aus dem Nichts ein Kätzchen auftaucht.
Resonanz ist die Antwort auf die Frage, die bei Rosa im Zentrum seiner Forschungen steht – auch wenn sie für seriöse Wissenschaft ungewöhnlich klingt: Was ist gutes Leben? Und ist es unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt möglich?
Jena, 9.55 Uhr. Rosa stürzt in sein Büro, 25 Minuten zu spät. „Alles okay?“, fragt er. „Ist ja doch nicht so viel heute.“ Seine Sekretärin schaut ihn skeptisch an.
Nicht so viel heißt für Hartmut Rosa: 15 Minuten Zeit, den wichtigsten Papierkram zu erledigen, danach zwei Stunden Seminar, anschließend Vorlesung, nein, die übernimmt ein Mitarbeiter, Rosa gibt ein Radiointerview, irgendeine neue Studie zu Stress, dann Lehrstuhlbesprechung, die neuen Mitarbeiter sollen mit einer kleinen Feier begrüßt werden, Sprechstunde, Institutskonferenz, neue Förderanträge, anschließend Kolloquium, dann eine Besprechung zur Reform der Studienordnung, dann Abendessen mit den Kolloquiumsteilnehmern.
„Herr Rosa, da haben zwei Studenten noch mal wegen ihrer Magisterarbeitsgutachten nachgefragt, die sind überfällig“, ruft die Sekretärin, während Rosa seine Tastatur sucht. „Was passiert, wenn ich die noch zwei Wochen liegen lasse?“, ruft er zurück.
Seit Anfang Oktober hat Rosa zwei Jobs. Er ist weiterhin Professor für Theoretische Soziologie in Jena – und zusätzlich Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Eigentlich ein Vollzeitjob, für den ihn die Erfurter Uni vorgesehen hatte. Aber Rosa wollte nicht aus Jena weg. Wobei er schon dort nicht unterbeschäftigt war: 2009 verfasste er einen Hilferuf. „Die Verschuldung nimmt beängstigende Ausmaße an“, schrieb er in einem Aufsatz. Nachts liege er wach, plane, rechne. Er sei insolvent. Temporalinsolvent, zeitlich illiquid. Solle doch ein Konkursverwalter entscheiden, wem er seine Zeit widmet. „Ich bin sicher, selbst wenn er mit äußerster Härte vorgeht: Solange er sich nur im Entferntesten an die Menschenrechtsrichtlinien von Amnesty International hält, wird er am Ende für meinen Eigenbedarf mehr Zeit übrig lassen müssen, als ich mir selbst in den letzten Jahren genommen habe.“
Rosa beschreibt ein Gefühl, das viele Menschen haben. Jeder zweite Arbeitnehmer klagt über starken Termin- und Leistungsdruck, schreiben die Beamten des Bundesamtes für Arbeitsschutz in ihrem „Stressreport“. Jeder fünfte fühle sich von seiner Arbeitsbelastung regelmäßig überfordert. Power Nap, Highspeed-Internet, Fast Food, Speed Dating sind Begriffe unserer Zeit. Rosa hat das nicht als Erster erkannt. Doch er war der Erste, der den soziologischen Kanon 490 Seiten lang wendete, bis jedem Leser von „Beschleunigung“ einleuchtete, dass Zeit ein wesentlicher Faktor zur Untersuchung moderner Gesellschaft sein könnte. Am Anfang des Buchs stellt Rosa eine Frage: Flugzeug, Handy, Onlinebanking – durch neue Technik gewinnen wir ständig Zeit. Trotzdem haben die meisten das Gefühl, immer weniger Zeit zu haben. Warum?
Waldshut, 600 Kilometer von Jena. Der Weg von hier nach Grafenhausen führt über eine steile, kurvige Waldstraße. Hartmut Rosa ist kein Raser. Aber er neigt dazu, seine Fahrgeschwindigkeit seiner Redegeschwindigkeit anzupassen. „Im Schnitt bin ich jedes zweite Wochenende hier.“ Bremsen, Kurve, Beschleunigung. „Nach Waldshut bin ich früher jeden Tag zur Schule gefahren. Fast eine Stunde hat das gedauert.“ Bremsen, Kurve, Beschleunigung. „Die Zeit läuft hier oben halt einfach anders.“
Anders als zum Beispiel in London. 1988 ging Rosa, damals Student in Freiburg, für ein Auslandssemester an die London School of Economics. In der Metropole kam ihm erstmals die Ahnung, dass Zeit eine soziale Kategorie sein könnte. Zehn Jahre später fiel ihm dieses Gefühl wieder ein, als er einen Aufsatz zum Thema „Kapitalismus und Lebensführung“ schrieb. Er entschied, seine Habilitation dem Thema zu widmen. Um das richtige Gefühl zu bekommen, schrieb er einen Teil in New York.
Ursprünglich, so analysiert Rosa, hat Beschleunigung viel mit zwei wesentlichen Eigenschaften unserer Gesellschaft zu tun: dem Kapitalismus und der Säkularisierung. In modernen, kapitalistischen Gesellschaften wird Wettbewerb als das fairste Prinzip zur Verteilung von sozialen Positionen angesehen. Wer leistet, erhält Status und Privilegien. Da Status und Privilegien aber knapp und auch bei der Konkurrenz begehrt sind, heißt das für jeden: Wir müssen pro Zeiteinheit immer mehr leisten.
In modernen, säkularisierten Gesellschaften gibt es weder den erlösenden Himmel noch die strafende Hölle. Das Leben vor dem Tod ist zentral. Und das sollen und wollen wir reich und erfüllt führen, sprich: möglichst viele Optionen nutzen. Neue Technik bietet aber immer mehr Optionen. Um also im Vergleich mit anderen ein erfülltes Leben zu haben, heißt das für uns: Wir müssen pro Zeiteinheit immer mehr erleben.
Heute haben sich diese Prozesse verselbstständigt, sagt Rosa. Moderne Gesellschaft ist für ihn ein rasanter werdendes Perpetuum mobile: Um unsere knappe Zeit besser zu nutzen, entwickeln wir neue Technik. Weil aber alle diese Technik haben, müssen wir ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen, um im Wettbewerb nicht zurückzufallen. Früher kamen einmal am Tag die Zeitung und die Post, heute checken wir die Nachrichten im Minutentakt im Netz – und Mails werden aufs Handy geleitet. Das spart Zeit, heißt aber auch: Wir erwarten, dass Mails rasch beantwortet werden und jeder die Nachrichtenlage kennt. Wir haben weniger Zeit als je zuvor. Übrig bleibt der Eindruck: Eigentlich geht’s ganz gut, aber momentan ist es echt stressig.
Jena, 12.55 Uhr, Rosa muss ins Büro zurück. Der Bayerische Rundfunk hat angekündigt, kurz nach 13 Uhr anzurufen, ein Live-Interview, es geht um eine neue Studie zu Stress, er weiß es nicht genau. Die Sekretärin ist noch beim Mittagessen. „Hoffentlich schaffe ich es, das Studio selbst in Betrieb zu nehmen.“ Rosa hat sich ein kleines Studio eingerichtet. „Es hat zu viel Zeit gekostet, immer in die Funkhäuser zu fahren. Und übers Telefon ist die Qualität zu schlecht.“ Nun gibt er ein bis zwei Radiointerviews pro Woche, noch viel mehr lehnt er ab, sagt er, und googelt, welche Studie der BR meinen könnte.
Ist Stress mit gutem Leben vereinbar? Das ist Rosas Frage.
Sein Grafenhausen: drei Waldstücke, ein Teleskop
Gutes Leben. Das klingt nicht nach Wissenschaft, sondern nach Ratgebersachbuch. Ein bisschen nach „Entschleunigungs-Guru“, wie es in der FAZ mal über Rosa hieß. „So ein Schwachsinn“, zischt er. „Die haben es einfach nicht kapiert: Entschleunigung ist ja gerade nicht die Lösung. Beschleunigung ist ein soziales Problem. Da kann der Einzelne nicht einfach aussteigen, dauerhaft entschleunigen, dann fällt er im sozialen Wettbewerb zurück.“
Gibt es nicht eine ganze Industrie, die von Entschleunigung lebt: Yogakurse, Wellness-Wochenenden, Urlaub im Kloster?
„Aber worum geht es denn da? Wir machen eine Pause, um danach erfolgreicher beim Wettlaufen mitmachen zu können.“
Also kein gutes Leben. Aber was soll das schon sein, gutes Leben? Für die klassischen Philosophen war es eine zentrale Frage, wie man glücklich lebt. Heute lehnen die meisten Sozialwissenschaftler ein solch explizites normatives Ideal ab: Zu oft haben Heilsprediger mit ihren Idealen vom guten Leben Menschen in Katastrophen geführt. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was gut ist.
Eine einspurige Straße führt an den Ort, an dem Rosa wohnt, an den Rand von Grafenhausen. Hinter dem Haus ist ein kleiner Garten, auf der Wiese drüben grasen Kühe, dahinter reichen die Felder bis zum Horizont. „Ich habe letzte Woche Kartoffeln rausgemacht, es waren 320, ich habe sie gezählt“, sagt Rosa. „Ich mache hier viele Dinge, die ich in Jena nicht mache: Ich bin Vorsitzender des Tennisvereins, spiele montags Volleyball und alle drei Wochen die Kirchenorgel, ich habe meinen Garten, meine drei Waldstücke, mein Teleskop.“ Es klingt nach Freizeitstress, aber für Rosa ist es das gute Leben.
Woher wollen Sie wissen, was das gute Leben ist, Herr Rosa?
„Es gibt natürlich keinen universellen Maßstab für gutes Leben“, sagt er. „Mir geht es auch nicht darum, die Ziele, Werte oder Inhalte eines gelingenden Lebens aufzuzählen. Aber ich glaube, dass Menschen bewusst oder unbewusst eine Vorstellung davon haben, wie ein gutes Leben aussieht. Und die Frage ist nun: Gibt es soziale Bedingungen, die systematisch verhindern, dass wir selbstbestimmt so leben, wie wir gern leben würden?“
Rosa wohnt in seinem Elternhaus im oberen Stock, darunter sein Vater, nebenan leben seine Schwester und sein Schwager. Eine Treppe mit grünem Teppich führt an Landschaftsbildern und Bücherwänden vorbei. Es riecht nach feuchtem Papier.
„Kaffee?“ Im Wohnzimmer der Schreibtisch, Notizen, ein Keyboard, an der Wand ein Plakat der Metalband, in der Rosa zu Schulzeiten spielte: Scarecrow Overdrive, die überdrehte Vogelscheuche. Sie tragen Anzüge, rosa Handschellen, es soll nach Mafia aussehen. Die Böden der Bücherregale drücken sich durch. „Es ist halt viel einfacher, ein Buch zu kaufen, als es zu lesen.“
Wir kaufen, aber haben keine Zeit zu konsumieren. Wir jetten um die Welt, aber haben keine Zeit, irgendwo anzukommen. Wir besitzen immer bessere Geräte, aber haben keine Zeit, ihre Funktionen zu verstehen. Wir erleben so viel und machen doch keine prägenden Erfahrungen. Ständig fühlen wir uns schuldig, weil wir nicht genug arbeiten, nicht genug Zeit für unsere Freunde oder die Familie haben, nicht mal wieder eine Reise machen oder eine Sprache lernen. Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur viel zu selten dazu, würde Udo Lindenberg singen.
■ Aktion: Mit dem schnelleren Tempo hat sich nicht nur die Wahrnehmung der Welt verändert, sondern auch das Verhältnis zu ihr. Das Wort Entschleunigung tauchte das erste Mal Ende der Siebziger im Buch „Singles – Alleinsein als Chance“ von Jürgen vom Scheidt auf. Die Idee gab es aber schon im 19. Jahrhundert. Damals wurde in England überlegt, Geschwindigkeitsbegrenzungen für Eisenbahnen einzuführen und Fahrten über zehn Kilometer pro Stunde zu verbieten.
■ Reaktion: Das steigende Tempo stieß in der Gesellschaft stets auf widersprüchliche Reaktionen: einerseits Fortschrittsbegeisterung, andererseits Skepsis, dass die Geschwindigkeit den Menschen überfordern könnte. Paul Virilio diagnostizierte 2011 in seinem Buch „Der große Beschleuniger“, dass die neueste Steigerung von Beschleunigung – das Erreichen von Echtzeit dank der Übertragungstechniken – eine neue Ohnmacht zur Folge habe. Nach jahrtausendelangem Beschleunigungsfortschritt drohe eine totale Regression.
Wir fühlen uns entfremdet, sagt Rosa. Er hat den Marx’schen Begriff aufgefrischt. Die Beziehung zwischen Mensch und Welt sei nachhaltig gestört, sagt er. Die Welt ist uns fremd, weil wir keine Zeit haben, uns mit Menschen und Gegenständen bekannt zu machen. Alles bleibe oberflächlich.
Rosa nimmt die Fernbedienung, der Fernseher geht an. David Gilmour, Live At The Royal Albert Hall. Rosa scrollt durch die Titelliste. Er wählt „Echoes“ aus. „Ich glaube, unser Weltverhältnis lässt sich am besten durch Musik und Gedichte verstehen“, sagt Rosa. „Es gibt da diese Szene in ‚The Wall‘, da steht der Protagonist Pink vor der Wand und schreit: Is there anybody out there? Das ist Entfremdung. Und Echoes ist quasi die Antwort, das, wonach wir suchen. Wir wollen, dass die Welt uns antwortet, wenn wir in sie hineinrufen: Wir suchen nach Resonanz.“
Zwei Menschen können faktisch das gleiche Leben führen, doch der eine ist glücklich, der andere nicht – je nachdem, wie er sich mit der Welt verbunden fühlt, Weltbeziehung nennt Rosa das. Resonanz und Entfremdung sind dabei die entgegengesetzten Grundformen: Fühlt sich jemand aufgehoben, getragen im Leben, oder fühlt er sich der Welt ausgesetzt, in sie hineingeworfen. Und Sie, Herr Rosa?
„Überraschenderweise fühle ich mich getragen.“
Überraschenderweise?
„Ja. Ich bin sechs Wochen zu früh auf die Welt gekommen und habe dann die ersten drei Monate meines Lebens im Brutkasten verbracht. Jeder Psychotherapeut wird Ihnen sagen, dass das die beste Voraussetzung für eine ernsthafte Bindungsstörung ist.“
Pause.
„Ich lebe heute tatsächlich ohne enge personale Bindungen, ich habe keine Familie“, sagt er dann. „Trotzdem fühle ich mich getragen. Das ist irgendwie mein Lebensthema.“
Rosa fährt Richtung Schlüchtsee, einem seiner Lieblingsplätze. Der kleine See, eigentlich eher ein großer Teich, liegt gut einen Kilometer von Grafenhausen entfernt, neben dem Fußballplatz. „Es dauert nur zwanzig Minuten, einmal drum herumzugehen. Wollen wir?“
Laub und Regen, der Wind lässt die Blätter rascheln. Ist das ein Ort, der bei Ihnen Resonanz erzeugt? „Er ist eine Resonanzachse, ja. Das heißt: Es ist wahrscheinlich, dass ich hier eine Resonanz erfahre. Aber das lässt sich nicht steuern oder manipulativ herstellen. Es braucht – und das ist die Krux – einfach Zeit. Muße, hätte man früher einmal gesagt.“
Religion, Kultur, Natur sind die traditionellen Resonanzachsen, sagt Rosa. Eine kirchliche Zeremonie, der Anblick der Berge, der Sieg der Lieblingsmannschaft, ein Song, das seien Momente, die es wahrscheinlich machen, dass man sich vereint fühlt mit der Welt. Für Rosa ist es Grafenhausen.
Fast den ganzen Sommer hat er hier verbracht. 150 Seiten seines neuen Buchs hat er geschrieben, 2015 soll es erscheinen. „Ich bin zum ersten Mal seit Jahren kontinuierlich zum Denken und Schreiben gekommen. Ich kann es noch!“ In diesem Jahr ist ein anderes Buch von ihm erschienen: „Beschleunigung und Entfremdung.“ „Die Feuilletons haben geschrieben, dass da überhaupt nix Neues drin steht“, sagt Rosa. „Natürlich nicht. Das ist die deutsche Übersetzung eines englischen Essays, den ich vor einigen Jahren geschrieben habe. Der Verlag wollte das gern auflegen, weil es im Prinzip eine leicht geschriebene Variante des Beschleunigungsbuchs ist.“
Warum haben Sie seit 2005 kein Buch mit neuen Ideen mehr geschrieben?
„Ich bin nicht dazu gekommen.“
Jena, 17.55 Uhr. Rosa kommt aus der Institutskonferenz. Seine Redegeschwindigkeit hat sich im Laufe des Tages noch erhöht, und je schneller er redet, desto deutlicher hört man seinen Schwarzwälder Dialekt. „Diese Förderpolitik ist totaler Quatsch“, schimpft er. Sein neuer Job bringt ihn in einen Interessenkonflikt: Das Land Thüringen verteilt Fördermittel im Wettbewerbsprinzip. Und das heißt: Sein Erfurter Kolleg und sein Jenaer Institut sind Konkurrenten. Aber jetzt ist keine Zeit zum Nachdenken, das Kolloquium fängt an.
Warum tut Rosa sich das an? Stress mit den Forschungsprojekten, Ärger mit der Koordination von zwei Jobs, Konflikte mit den Kollegen. Jena. Er könnte in Grafenhausen an seinem Buch schreiben, abends mit seinem Teleskop in die Sterne schauen, Pink Floyd hören, während Shakespeare auf dem Sofa schnurrt.
Warum tun wir uns das an? Wir arbeiten bis nach Mitternacht, um morgen mehr Zeit für andere Projekte zu haben. Wir liegen mit Grippe im Bett und rufen im Büro an, ob alles läuft. Wir sitzen in Kroatien am Strand und lesen Arbeitsmails. Und das Schlimmste: Die meisten von uns machen all das, ohne dass irgendjemand uns explizit dazu zwingt.
Sind wir verrückt?
Jena, 19.55 Uhr, das Kolloquium hat fast zwei Stunden diskutiert, ob der Psychologe George Herbert Mead mit seinen Gedanken zur Entstehung von Identität etwas zu Rosas Resonanztheorie beitragen kann. Rosa hat viel genickt, oft „Mhh“ gesagt und mehrfach in den Raum gerufen: „Ha, seht ihr, ich hab’s euch doch schon immer gesagt, meine Theorie ist super!“ Ein Teil seiner Mitarbeiter hat geschmunzelt, manche haben den Kopf geschüttelt und gelacht. Dann haben sie vehement widersprochen, und Rosa hat schelmisch gegrinst.
Wollen wir am Ende den ganzen Druck und Stress?
Nun steht er vor dem Dozentenpult und diskutiert mit einer Studentin, die Teile seiner Theorie recht kritisch sieht. Rosa strahlt, er wirkt glücklich. Ist das Resonanz? Das beschleunigte Leben in Jena, das entschleunigte Leben in Grafenhausen. Stress an der Arbeit, Glück in der Natur. Vielleicht ist die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben doch nicht so eindimensional.
+++ Enthetzt euch! Weniger Tempo – mehr Zeit +++ Das kleine Übungsheft. Entschleunigen +++ Wer Meer hat, braucht weniger. Über den Rückzug auf ein altes Segelboot +++ Die 7 Geheimnisse der Schildkröte. Den Alltag entschleunigen, das Leben entdecken +++ Speed. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit +++ Muße. Vom Glück des Nichtstuns +++ Die Kuh, die weinte. Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück +++ Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine +++ Lass los und du bist Meister deiner Zeit +++ Die Bären-Strategie. In der Ruhe liegt die Kraft +++ Schutz vor Burn-out. Ballast abwerfen – kraftvoller leben. Entschleunigung im modernen Arbeitsalltag. Mit QiGong-DVD +++ Die Entdeckung der Langsamkeit +++
Der wissenschaftliche Ehrgeiz, der Drang, besser als die Konkurrenz sein zu wollen, treibt ihn nach Jena, sagt Rosa. Aber auch die Diskussionen, die genauso Resonanz erzeugen können wie die Natur. Dass er im Sommer so viel an seinem Buch geschafft habe, das sei, so gibt er zu, vor allem der Angst geschuldet gewesen, noch weniger Zeit zu haben, sobald er den neuen Job angetreten hat. Nicht die Natur an sich, sondern der Erfolg in der Arbeit hat am Ende wohl dazu beigetragen, dass er glücklich war, Resonanz gespürt hat.
Wollen wir am Ende vielleicht den ganzen Druck und den Stress? Brauchen wir ihn? Sind wir selbst schuld?
„Ich bin Soziologe“, sagt Rosa. „In meinem Denken ist tief verankert, dass die gesellschaftlichen Strukturen uns prägen. Ich glaube daher nicht, dass wir selbst schuld sind.“
Wir wollen erfolgreich sein, weil wir erfolgreich sein müssen: weil wir es für richtig halten, erfolgreich zu sein und die Privilegien haben wollen, die mit Erfolg einhergehen. Die Gefahr ist aber hoch, dass wir in diesem Wettrennen vergessen, ein gutes Leben zu führen. Viele Jahre hat Rosa auf die Frage nach dem Ausweg geantwortet, dass wir das System ändern müssen, grundsätzlich. Aber er hatte nie einen Maßstab, gutes Leben zu beschreiben. „Seit ich die Idee mit der Resonanz hatte, fühle ich mich auch selbst besser“, sagt er.
Was können wir daraus lernen?
„Wir müssen akzeptieren, dass wir – egal was wir machen – immer etwas verpassen“, sagt Rosa. „Und dass wir bewusst Zeit für Muße brauchen.“
Menschen sind glücklich, wenn sie ab und an Resonanz erfahren. „Wir sollten uns daher Zeit nehmen, uns auf Dinge einzulassen. Wir sollten uns Zeit bewusst nehmen für das, was uns potenziell glücklich machen kann, also für unsere Resonanzachsen. Auch wenn’s im Alltag schwerfällt.“
Ist das nicht doch der Ruf nach Entschleunigung?
„Ja, gewissermaßen nach Momenten der Entschleunigung. Aber ich bin kein Coach, ich bin Wissenschaftler. Ich erforsche, welche Kräfte uns davon abhalten, Resonanz zu erfahren. Und ich sage: Dauerhaft hilft auch kein besseres Zeitmanagement oder mehr Gelassenheit. Am Ende holt uns die Beschleunigung ein.“
Letzte Frage: Wie geht es Shakespeare?
„Achje, Shaky, ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, den habe ich total vernachlässigt. Er lebt jetzt bei meiner Schwester. Ich hab einfach keine Zeit. Ich fürchte, er wird mich gar nicht mehr erkennen, wenn ich nach Hause komme.“ Hartmut Rosa schweigt. Für einen Moment.
■ Oliver Hollenstein, 28, ist freier Journalist. Er hat bei Rosa studiert