: Jammern auf ganz hohem Niveau
DISKUSSION Auf Einladung der Zeitschrift „Merkur“ debattierten Autoren wie Kathrin Passig an der Berliner FU über den Status des Essays
Der Essay hat es schwer. Diese Hybridform zwischen Feuilleton und Wissenschaft, in der sich freies, wildes oder unreglementiertes Denken ohne akademische Formvorgaben artikulieren darf, steht genau wegen seines ungeklärten „Dazwischen“-Status anscheinend immer noch unter Legitimationszwang.
Ein Fachartikel sollte er ebenso wenig sein wie kulturkritisches Gemaule oder gar eine schlichte Reportage. Zumindest hierzulande. Wie es um den Essay heute bestellt ist, war Thema einer Diskussion, zu der das Peter-Szondi-Institut der Freien Universität Berlin und die Zeitschrift Merkur am Freitag in die FU geladen hatten.
Intimes Podium
Intim ging es auf dem Podium zu, das fast vollständig – die Moderatoren Ekkehard Knörer und Tobias Haberkorn eingeschlossen – aus Merkur-Autoren bestand: Neben der Journalistin Kathrin Passig, dem Essayisten Michael Rutschky und dem Literaturwissenschaftler Georg Stanitzek stammte allein die US-Verlegerin Amanda DeMarco, die mit ihrem Verlag Readux Essays in Buchform veröffentlicht, nicht aus dem Umfeld der „deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“.
Georg Stanitzek, dessen Buch „Essay – BRD“ der Merkur-Redakteur Knörer als „Standardwerk zur Geschichte des bundesrepublikanischen Essays schlechthin“ vorstellte, zeigte sich ob der „doppelten Gastgeberschaft“ von Merkur und FU leicht verunsichert. Er sah darin die Zwiegespaltenheit von „Fragment und System“ fortgesetzt, die zur Debatte um den Essay gehöre. Sein Buch habe er eigens als „Vermeidungsversuch“ geschrieben, um sich dieser Debatte zu entziehen.
Allerdings steckte ein gut Teil Koketterie in dieser Verlegenheitsbekundung, ist die von Stanitzek unterstellte Dichotomie von Journalismus und Akademismus in Wirklichkeit doch recht durchlässig, wie an der Zusammensetzung der Veranstaltung deutlich wurde: Moderator Haberkorn, in der aktuellen Merkur-Ausgabe mit dem Beitrag „Kleine Neapologie“ vertreten, promoviert in Berlin bei Remigius Bunia, einem Schüler Stanitzeks und weiteren Autor der gastgebenden Zeitschrift.
Stanitzek erinnerte daran, dass es ihm nicht so sehr um literaturwissenschaftliche Epochen-Essayistik gegangen sei als vielmehr um eine Lektüre experimenteller Texte, in denen etwas ausprobiert werde – wie das Wort „Essay“ in seiner ursprünglichen Bedeutung nahelegt. Zu deren positiven Beispielen zählt er in seinem Buch neben der „Plaudertasche“ Rutschky auch taz-Autoren wie Detlef Kuhlbrodt oder Helmut Höge – Letzterer saß unter den Zuhörern.
In Deutschland sei die Akzeptanz solcher Texte gleichwohl begrenzt, so Knörer: Jemand wie Rutschky habe nie einen der einschlägigen Essay-Preise erhalten. Rutschky ergänzte, dass auch Autoren wie Siegfried Kracauer keinen Preis für ihre Essayistik erhalten hätten. Dessen Filmkritik etwa fehle schlicht die inhaltliche Dignität. Essays seien eine illegitime Form, die sich durch „heilige Gegenstände“ wie heilige Texte legitimieren könne – aber nicht durch Kino.
Einen entspannteren Blick auf den Essay als Gattung warf Amanda DeMarca. Ihr nüchterner Hinweis, dass der Essay hierzulande „etwas intellektueller“ sei, wirkte in der etwas zu sehr um sich selbst kreisenden Debatte durchaus erfrischend. US-Autoren wie John Jeremiah Sullivan – auf Deutsch erschien von ihm der Band „Pulphead“ – würden journalistischer vorgehen.
Es sei in den USA regelrecht hip, über etwas „Echtes“ zu schreiben, wobei man der literarischen Form zuliebe auch schon mal die Fakten frisiere, also lüge. Gegen journalistischere Essay-Formate hatte Knörer grundsätzlich nichts einzuwenden, solange mit der Form experimentiert werde. In deutschsprachigen Online-Angeboten wie Waahr.de jedoch vermisse er häufig diese Offenheit. Neues zur Lage des Essays gab es kaum. Was Kathrin Passig über das Schreiben von Blogs anmerkte, traf auch auf die Diskussion zu: Interessant finde sie daran den „kumulativen Effekt“. TIM CASPAR BOEHME