„Viele Kinder wohnen in Kammern“

Zumindest eine Spielecke sollten Eltern einrichten, rät Psychologin Flade. Ein Schulkind braucht zwölf Quadratmeter

taz: Frau Flade, Sie empfehlen, dass spätestens mit zehn jedes Kind sein eigenes Zimmer bekommen sollte. Besonders Ältere werden sagen: ein eigenes Kinderzimmer? Wir hatten damals auch keins.

Antje Flade: Das kann man mit heutigen Leistungsanforderungen von Schule und Arbeit oder mit Bedingungen anderer Länder nicht vergleichen. Unsere Lebensformen haben sich vervielfältigt und individualisiert. Der Mensch als Individuum spiegelt sich daher auch räumlich wider. Heute gilt eine andere Norm. Konzentriertes Lernen geht eben nur über ausreichend Arbeitsplatz und Ruhe. Deshalb ist ein eigenes Zimmer mit Eintritt in die Schule absolut erforderlich. Auch sollten Eltern die Wohnumgebung – ruhige Straße, anregender Spielplatz, kein Hochhaus – dabei im Auge behalten. Der freie und teure Wohnungsmarkt scheint sich aber für Kinderzimmer kaum zu interessieren. Oft haben Kinder von Durchschnittsfamilien eher Kammern.

Dagegen ist für Sozialwohnungen eine Mindestgröße von 10 Quadratmetern für ein und 14 für zwei Kinder vorgeschrieben. Reicht das aus?

Die Nachfrage hängt mit unserer demografischen Entwicklung zusammen. Weniger Kinder werden geboren, wir haben immer mehr Senioren. Investoren orientieren sich deshalb nicht mehr, wie vor 20 Jahren, an der Familie mit mehreren Kindern. Stattdessen investieren sie in altengerechte Wohnungen, was natürlich auch wichtig ist. Vor allem Wohnungen für ein und zwei Personen, Alleinerziehende und Eltern mit einem Kind sind heute gefragt. Die Wohnzimmer sind heute meist die größten Räume. Ein schulpflichtiges Kind sollte über mindestens zwölf Quadratmeter verfügen.

Was sollen die Eltern bei Platzmangel tun?

Wenn es gar nicht anders geht, ist es absolut notwendig, dem Kind eine konstante Spielecke einzuräumen. Das kann aber nur für eine Übergangszeit gelten. Ein Umzug wäre ratsam. Eltern müssten zudem besonders darauf achten, dass ihre Kinder sich viel in der Natur aufhalten, damit sie die häusliche Enge ausgleichen und sie sich körperlich gesund entwickeln.

Kindheitsforscher haben bis heute dem Zusammenhang zwischen Wohnverhältnissen und deren Einfluss auf die Entwicklung von Kindern nicht viel Beachtung geschenkt. Wie erklären Sie sich das?

Es ist wohl eher die Domäne der Architekten, Wohnformen empirisch zu untersuchen. Deshalb haben sie sich viel früher mit Fragen des Wohnens von Kindern und Familien beschäftigt. Das Bedürfnis von Kindern dabei zu berücksichtigen geht aber nur stellvertretend über die Eltern. Sie müssen beobachten, was ihre Kinder brauchen. Leider sind sie sich dieses Problems selten bewusst.INTERVIEW: BARBARA GOERGEN