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Archiv-Artikel

Kein neues Nationalgefühl

Der Deutschland-Taumel ist vorbei. Jetzt streiten wir wieder über Krankenkassenbeiträge

Die Fete ist vorbei. Einige werden noch ein bisschen weiterfeiern, sei es weil sie sich wirklich für Fußball interessieren, sei es weil es halt Spaß macht oder weil sie sich nicht nachsagen lassen wollen, schlechte Verlierer oder Gastgeber zu sein. Aber die ganz große Emotion, die gegrölte Hymne, das Fahnenmeer, der Deutschland-Taumel – das ist Vergangenheit. Jetzt schlägt die Stunde der konservativen Leitartikler, die sich um den Nachweis bemühen werden, dass diese WM die Welt oder doch zumindest Deutschland nachhaltig verändert hat. Und dass wir jetzt ein ganz neues, nationales Selbstbewusstsein haben. Auch wenn „wir“ nicht Weltmeister geworden sind.

Das wird nicht funktionieren. Konservative und Deutschnationale werden bald merken, dass sich ihre Hoffnungen nicht erfüllen. Zehntausende von Wimpeln erzeugen noch kein Nationalgefühl, das über den Tag hinausreicht. Was sich hier abgespielt hat, ist nicht das, wofür deutscher Bekennermut seit Jahrzehnten kämpft. Wenn die Bild-Zeitung, die ein sehr präzises Gespür für die Stimmung im Land hat, mit den Worten „schwarz-rot-geil“ herumspielt, dann ist das gewiss nicht der Umgang mit nationalen Symbolen, den sich Konservative oder gar Rechtsextremisten schon immer gewünscht haben. Sondern Ballermann.

So schlecht konnte die Konjunktur niemals sein und so hoch keine Arbeitslosenquote, als dass auf Mallorca nicht mehr gefeiert worden wäre. Hoch die Tassen! In ernsthaften Gesprächen hätte zwar die überwältigende Mehrheit der Urlauber vermutlich selbst nachts um zwei noch gesagt, dass ihnen die persönliche soziale Sicherheit wichtiger ist als die Freiheit, Sangria aus Eimern zu saufen. Darin dürften sie sich mit den allermeisten Fußballfans einig sein. Aber da der Verzicht auf das Eine das Andere nicht garantieren kann: warum nicht wenigstens so viel Spaß mitnehmen, wie man kriegen kann?

Genau das haben die Deutschen in den letzten Wochen getan. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Zuschauer brauchen ein Gemeinschaftsgefühl, um ein Sportereignis genießen zu können. Als die Westdeutschen 1974 weltmeisterlich Fußball spielten, standen die meisten Landsleute auch auf ihrer Seite. Aber das Land war damals geteilt, und „Bundesrepublik“ schreit sich einfach schlechter als „Deutschland“.

Und 1990? Da war noch niemand so recht heimisch geworden in den neuen Grenzen. Die Unsicherheit war groß – hier und im Rest der Welt. Mit den 68ern, die in den letzten Wochen für den angeblich bislang verklemmten Umgang mit patriotischen Gefühlen herhalten mussten – wofür müssen sie eigentlich nicht herhalten? – hatte das gar nichts zu tun. Aber Spaß an einem Wettkampf hat ja auch nichts mit Patriotismus zu tun. Im Unterschied zu Steuerehrlichkeit und der Bereitschaft zu Eherenämtern.

In den letzten Wochen haben die üblichen Verdächtigen der einen Seite in den Reihen der ebenfalls üblichen Verdächtigen der anderen Seite fast verzweifelt nach Stimmen gesucht, die das Gespenst des Nationalismus an die Wand zu malen bereit waren. Fast verzweifelt – und vergeblich. Es hat zwar so etwas Ähnliches wie eine Patriotismusdebatte gegeben, aber die Linke ist ihr mehrheitlich achselzuckend ferngeblieben. Zu Recht.

Auch Linke hatten Spaß am Fußball, und einige klemmten sogar einen Wimpel an die Antenne ihres Autoradios. Und weiter? Nichts weiter. Der Versuch, den „Stolz“ aufs eigene Land zur Bürgerpflicht zu erklären, wurde nicht nur von Dauergästen politischer Talkshows zurückgewiesen. Sondern auch von der Mehrheit der Fans, die sich nicht für ein politisches Ziel instrumentalisieren lassen wollten. Die Debatte wurde vertagt. Nicht abgesagt.

Aber bedeutet das nicht wenigstens, dass hierzulande „endlich“ alles so „normal“ ist wie andernorts in Europa? Na, hoffentlich nicht. Normalität ist nämlich kein Selbstzweck. Wer französischen Chauvinismus und britische Hybris genauer unter die Lupe nimmt, kann es eigentlich nicht für erstrebenswert halten, dem nachzueifern.

In dieser Hinsicht gibt es jedoch gar keinen Grund zur Besorgnis. Die Deutschen haben ein Fest gefeiert. Das geht zu Ende, und nun können – und werden – wir über die Höhe von Krankenkassenbeiträgen streiten. Was nichts daran ändert, dass viele sich auf die nächste Fußball-WM freuen. Und dann wieder deutsche Fahnen schwenken werden.