: Von links außen nach oben
Herbert Wehner würde nächste Woche 100 Jahre. Also hat Christoph Meyer eine große Verteidigungsschrift des umstrittenen Politikers geschrieben. Gerecht wird sie Wehner nicht
VON ALEXANDER CAMMANN
Drei deutsche Spitzenpolitiker des 20. Jahrhunderts starteten ihren Weg nach ganz oben von links außen: Willy Brandt, Joschka Fischer und Herbert Wehner. Gehasst und angefeindet wurden alle drei, Zuneigung und Verehrung erfuhren nur Brandt und Fischer. Wehner dagegen galt jahrzehntelang als bad guy auf der politischen Bühne der Bonner Republik.
Nach seinem Tod 1990 verdüsterte sich das Bild noch mehr, verstärkt durch Archivfunde in Moskau, Memoiren von Egon Bahr bis Markus Wolf, Willy Brandts legendäre „Notizen zum Fall G[uillaume]“ sowie durch die Attacken der Brandt-Witwe Brigitte Seebacher.
Hat das ZK-Mitglied der KPD Wehner im Moskauer Exil in den Dreißigerjahren deutsche Kommunisten denunziert? Hat der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende 1974 den schwachen und glücklosen Kanzler Willy Brandt über die Guillaume-Affäre stürzen lassen? Wollte Wehner, ohnehin ein Mann des Ostens, durch seine Geheimkontakte mit Erich Honecker in den 1970er-Jahren den persönlichen Traum einer einheitlichen deutschen Arbeiterbewegung verwirklichen?
Dem Exkommunisten und „unehelichen Kind“ der SPD (Wehner über Wehner) schlug zeitlebens Misstrauen entgegen. Doch zuletzt verengte sich der Blick von Forschung und Öffentlichkeit auf solche skandalträchtigen Fragen.
Pünktlich zum 100. Geburtstag Wehners am kommenden Dienstag hat nun Christoph Meyer, Leiter des Herbert-Wehner-Bildungswerks in Dresden, eine große Biografie vorgelegt. Dazu gewährte Wehners Witwe Greta erstmals umfassenden Zugang zu dessen Nachlass. Sie unterstützte den Autor auch in zahlreichen Zeitzeugengesprächen, ohne auf die „Darstellung und Wertung“ Einfluss zu nehmen, wie es im Vorwort heißt. Das wäre auch kaum nötig gewesen: Sie ist für Meyer ohnehin die letzte Instanz, die häufig zitiert wird. Der Autor nimmt den vielfach Geschmähten mit einer notorischen Beharrlichkeit in Schutz, die einer intellektuellen Selbstaufgabe gleicht.
Dabei ist seine Rekonstruktion von Wehners erstaunlichem Werdegang anhand des Archivmaterials durchaus verdienstvoll. Doch das „vordemokratische“ Leben des gebürtigen Dresdners wird bei Meyer nicht als Prägephase gedeutet, sondern zur Vorgeschichte degradiert. Der rasante Wandel des jungen anarchistischen Privatsekretärs von Erich Mühsam zum Führungsmitglied in der KP-Zentrale, nach 1933 zum mutigen Organisator des kommunistischen Widerstands wird mehr referiert als analysiert, die stalinistische Ideologie der Weimarer Kommunisten und Wehners zart kritisiert: „Die KPD war im Irrtum – und Wehner irrte mit.“
Auch seine umstrittene Zeit in Moskau zwischen 1937 und 1941 bleibt blass. Wehners Denunziationen von Mitgenossen in Berichten und Vernehmungen beim NKWD, auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen, entsprachen dem üblichen Verhalten eines überzeugten kommunistischen Spitzenfunktionärs in jener bedrückend-bedrohlichen Atmosphäre. Selbst beschuldigt, belastete er bereits Verhaftete und alte innerparteiliche Gegner. Opfer- und Täteranteile vermischen sich bei Wehner auf tragische Weise.
Wehner selbst hat später seinen Bruch mit dem Kommunismus zwischen 1941 und 1946 in Schweden geschildert; Meyer meint, dieser Bruch sei schon angelegt gewesen, als er im Parteiauftrag 1941 in das neutrale Land geschickt wurde, um Kontakte zum deutschen Widerstand zu organisieren. Wie rasch auch immer Wehners Wandlung sich vollzog: Sie führte ihn nach dem Krieg in die SPD und 1949 in den Bundestag. Er wurde zum einflussreichen, für seine Zwischenrufe gefürchteten Parlamentarier und machte die fundamentaloppositionelle Sozialdemokratie allmählich regierungsfähig: durch seine außenpolitische Rede 1960, in der er die militärische Westbindung akzeptierte, oder sein unermüdliches Hinarbeiten auf die große Koalition 1966.
So berechtigt jedoch das Anliegen ist, Wehners Verdienste für die SPD herauszuarbeiten: Unmut über das schlechte Image seines Schützlings färbt durchgängig das Urteil seines treuen Biografen. Wehner mochte Egon Bahr nicht, weil dieser laut Greta „zu wenig Distanz zu Geheimdiensten“ hatte; ein SPD-Bundestagsabgeordneter wird mal eben ohne Beweis als Informant Adenauers verdächtigt; Brandt als depressiver Schwächling gezeichnet.
Logisch, dass Meyer keines seiner zahlreichen Zeitzeugengespräche mit Wehner-Gegnern führte, und deshalb nicht erfährt, weshalb so viele ihre Probleme mit dem manchmal brutal, manchmal kriecherisch wirkenden Fraktionschef hatten.
Das Bild des Kärrners Wehner, der im Umgang schwierig war, wird der komplexen politisch-psychologischen Konstellation der „Troika“ Brandt-Schmidt-Wehner nicht gerecht – auch wenn Wehner zwischen 1966 und 1982 die sozialdemokratische Regierungsmacht durchweg stabilisierte. Wehner ist durch sein Wirken ein Beleg für die Ausstrahlung der Sozialdemokratie, die auch einstige Feinde integrieren konnte. Diese schillernde Ausnahmegestalt hätte eine subtilere Würdigung, als Meyers biedere Verteidigungsschrift verdient.
Christoph Meyer: „Herbert Wehner. Biographie“. dtv, München 2006, 579 Seiten, 16 Euro