piwik no script img

Archiv-Artikel

Acht Essener stürmen den Gipfel

AUS ESSEN HENK RAIJER

Für Johannes ist eins ganz klar: Nur Überreichen bringt‘s nicht, eine halbstündige Unterredung mit den Staats- und Regierungschefs sei das Mindeste. „Die sollen uns zuhören“, ruft der 14-Jährige in die Runde. Die hat sich an diesem Nachmittag wie so oft in den letzten Wochen nach dem Unterricht in einem Klassenraum des Gymnasiums Überruhr in Essen zur Vorbereitung auf das Abenteuer St. Petersburg versammelt. „Immerhin 70 Prozent der Weltbevölkerung sind unter 18 Jahren“, weiß der Schüler mit der randlosen Brille und der Spange in einem Mund, der ständig in Bewegung ist. „Wir sind die Zukunft, nicht die, die heute über das Schicksal von Millionen entscheiden.“

Vladimir Putin muss sich warm anziehen. Denn zum G-8-Gipfel vom 15. bis 17. Juli in Russland reisen nicht nur die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industrienationen an, sondern auch 64 Kinder aus acht Nationen, die den Junior-8-Wettbewerb der Morgan Stanley Foundation gewonnen haben. Sie nehmen seit vergangenem Wochenende am zweiten internationalen Kindergipfel (7. bis 18. Juli) in St. Petersburg teil, der das G-8-Treffen begleitet.

Ziel der vom russischen Bildungsministerium in Zusammenarbeit mit Unicef organisierten Beratungen ist es, zu den Gipfelthemen Energie, Bildung, HIV/Aids und anderen Infektionskrankheiten eine Resolution zu verabschieden. Die soll Russlands Präsidenten und seinen Gästen mit sehr deutlichen Forderungen Feuer unterm Hintern machen, Verantwortung für die globalen Probleme zu übernehmen und wirksame Schritte einzuleiten. „Kinder sollen eine Stimme haben bei der Bewältigung der Probleme in der Welt“, erklärt Helga Kuhn von Unicef-Deutschland. Das UN-Kinderhilfswerk unterstützt als Partner des Veranstalters die Essener Schüler bei der Vorbereitung auf das Zusammentreffen mit Regierungsvertretern, etwa indem Unicef-Mitarbeiter Gesprächsführung vor der Kamera üben. „Sie sollen Forderungen erarbeiten und den Politikern ihre Meinung sagen“, so Kuhn.

Augenmerk auf Aids

Schon das Kommuniqué, das die drei Schülerinnen und fünf Schüler der achten Klasse des Gymnasiums Überruhr im Vorfeld des Gipfels verfasst haben, hat es in sich. Darin wird nichts weniger verlangt, als „dass die G-8-Länder sofort mit der Finanzierung von Programmen zur Energieerzeugung und Energienutzung in Entwicklungsländern auf dem Stand modernster Technologien beginnen“. Gefordert werden in dem Papier auch „schulgeldfreie Bildungsjahre für alle Kinder über acht Jahre“, damit diese auch in den entlegensten Winkeln Afrikas und Asiens „zur Schule gehen können, anstatt zur Arbeit geschickt zu werden“. Auch solle die G8 „effektive Programme zur Senkung der Korruption in den GUS-Staaten“ implementieren.

Ein besonderes Augenmerk richtet die Essener Gruppe auf den Kampf gegen HIV/Aids und andere Infektionskrankheiten und hierbei vorrangig „auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft: die Frauen, die doch neues Leben schenken“. Diesem Thema haben sich seit Beginn ihrer Teilnahme am Junior-8-Wettbewerb Anfang März Laura Friedrich und Julia Servaty verschrieben. „Über HIV und Aids wird eigentlich erst in der neunten Klasse gesprochen“, erzählt Laura. Daher mussten sie sich ihr Wissen selbst erarbeiten. Über Wochen haben sich die 14-Jährige und ihr gleichaltrige Freundin Julia nachmittags in die Bibliothek gehockt und stapelweise Bücher durchforstet und im Internet recherchiert. „Ich meine, eine Eindämmung von Aids wäre möglich, wenn die reichen Länder den Kranken in den armen Ländern den Zugang zu medizinischer Behandlung und bezahlbaren Medikamenten ermöglichten“, sagt Julia, die an diesem Nachmittag wie ihre sieben Mitstreiter in einem blauen Unicef-T-Shirt zur Extraschicht aufgelaufen ist. Laura ergänzt: „Bei guter Schulung durch Experten aus den G-8-Ländern sind einheimische Frauen mit Sicherheit in der Lage, die Mauer des Schweigens über HIV und Aids zu durchbrechen.“

Edmund Hundert ist sichtlich stolz auf seine Gipfelstürmer, zumal auf Laura und Julia, deren eindeutige Parteinahme für die Frauen ihm besonders „unter die Haut“ gehe. Der Projektleiter, der eher zufällig auf den Wettbewerb im „Ausbildungsportal nrw“ gestoßen war, betont, er habe sich im Verlauf des Wettbewerbs nie als Materiallieferanten gesehen, sondern immer nur als Moderator agiert. „Ich wusste, dass diese aus zwei achten Klassen ausgesuchten acht Schüler die richtigen waren, um sich zu den vorgegebenen Themen Kenntnisse zu erarbeiten“, sagt Religions- und Erdkundelehrer Hundert, nach dem sich das Essener Projekt „Hundertacht“ getauft hat. Hundert, ein sanfter, weißhaariger Endfünfziger, der seit 1980 am Gymnasium Überruhr tätig ist und dort auch Russisch unterrichtet, empfindet die Teilnahme seiner Truppe am Kindergipfel in St. Petersburg als „Auszeichnung für unsere Schule“.

Überstunden am PC

Treibende Kraft hinter dem Projekt „Hundertacht“ sind neben Edmund Hundert seine Schüler Johannes Reimann und Janusch Krasberg, die sich des Themas GUS angenommen haben. Die beiden Achtklässler haben nach eigenem Bekunden seit Anfang März wegen des Wettbewerbs „so manche Überstunde geschoben“. Ganze Abende hätten sie gemeinsam oder jeder für sich am Computer gesessen, um sich das Wissen über Rohstoffmärkte, Importzölle und politische Systeme in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf die Festplatte zu schaufeln, erzählt der 14-jährige Janusch. Fußball, Musik oder Freunde? „Standen all die Zeit nicht auf der Tagesordnung“, sagt Johannes, „die eigentliche Arbeit haben wir schließlich nicht während der Treffen mit Herrn Hundert nach dem Unterricht gemacht, sondern zu Hause oder in der Bibliothek.“

Grundlegende Informationen über Infrastruktur, Korruption und die instabilen Verhältnisse in den GUS-Staaten hätten sie sich über Wikipedia, aus Enzyklopädien oder mit Hilfe von Fachbüchern besorgt. „Und das mussten wir dann für den Wettbewerbsbeitrag alles ins Englische übersetzen“, erzählt Johannes, „eigentlich nicht gerade mein Glanzfach.“ Beide räumen ein, Ideen oder Textpassagen dann und wann mit Mutter oder Vater besprochen zu haben. „Aber inhaltlich haben wir uns nicht reinreden lassen, auch nicht von Herrn Hundert“, ereifert sich Janusch, der es in diesen Tagen vor der Abreise nach St. Petersburg kaum erwarten kann, sich mit den Schülern aus Frankreich, USA oder Russland Stunden lang über jedes Detail im gemeinsamen Forderungskatalog zu fetzen. Wie Staatschefs eben.