Der Sommer geht in die Verlängerung

Nach dem kollektiven Fußballtaumel gibt es keinen Anlass, in eine Post-WM-Depression zu verfallen. Endlich bleibt wieder Zeit für die wichtigen Dinge: Liebe, Inhalte, Bewegung. Sechs Gründe, warum der Sommer auch ohne Fußball lebenswert bleibt

Mehr Party

Die ersten zwei Wochen habe ich gedacht, es liegt an der WM, dass die Leute alle so aus dem Häuschen sind. Inzwischen ist klar: Es liegt am Wetter. Bei Temperaturen von 34 Grad muss Mensch durchdrehen – Fußball hin oder her. Wetten, dass die Kneipen mit Sitzplätzen im Freien heute, morgen und übermorgen genauso voll, wenn nicht voller sein werden als während der WM? Schließlich gibt es keine Fanmeile mehr. Wo soll Mensch in Sommernächten wie diesen denn sonst hin? In der stickigen Wohnung bleiben, wo selbst weit geöffnete Fensterflügel keine Kühlung bringen? Früh ins Bett, um dann nicht schlafen zu können? Dann doch lieber gleich auf der Straße die Nacht zum Tage machen, Unmengen von Flüssigkeit in sich hineinkippen und Nonsens reden. PLU

Mehr Inhalte

Es gebe Wichtigeres als Fußball, nur nicht im Moment – mit diesem Spruch rechtfertigte ein Nachrichtensender seine Fußballübertragungen. Weil das Wichtige nun also vier Wochen lang unwichtig war, sei die Frage erlaubt, ob sich die Wahrnehmung dessen, was wichtig ist, dadurch gewandelt hat?

Die Antwort ist: Ja. Die Berichterstattung hat gezeigt, dass etwas falsch läuft in den Medien. Denn diese setzen auf Schlagzeilen, auf schnelle Statements und auf Tooooor. Was zuvor war, ist schon vergessen. Der Kontext ist unwichtig. Nichts ist so irrelevant wie das vorletzte Tor. Aber warum soll das vorletzte Tor unwichtig sein? Vielleicht hätte es ohne es das letzte nie gegeben.

Nach vier Wochen WM-Wahn ist Zeit, zu den eigentlichen Inhalten zurückzukommen: Denn nicht die Deutschlandflagge ist das Thema, sondern die Suche nach der internationalen Gesellschaft im nationalen Verständnis. Da ist es erhellend, sich zu vergewissern, dass ein Berliner Dauerbrenner während der WM jenseits des Fußballs ausgerechnet die Abschiebepolitik war. Auch nicht der Bierkonsum auf der Fanmeile ist das Thema, sondern das Überleben der BerlinerInnen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. So sehen vorletzte Tore aus. Sie sind wichtig. WS

Mehr Liebe

Da war doch noch was: Ach ja, die Liebe. Ob sie gelitten hat in den letzten vier Wochen? – Auf jeden Fall fehlen ihr mindestens 64 mal 90 Minuten. 5.760 Minuten sind das, wenn man es ausrechnet. Das macht 96 Stunden oder vier Tage. Die Nachspielzeiten, Verlängerungen und Elfemeterschießereien nicht mitgerechnet. Insgesamt gilt es, festzuhalten: Vier volle Tage Lebenszeit – Schlaf nicht eingerechnet – sind bei Fußballbegeisterten fürs Fußballgucken verschwendet worden. Wie die Liebe diese verlorene Zeit je wieder gutmachen wird, das steht dahin. WS

Schönere Sprache

Im letzten Monat hat sich eine Weltmeistersprache aus Begeisterungsvokabeln und Superlativen wie Zuckerguss über die nüchterne deutsche Sprache gelegt: Allerorten beschwor man Wunder und feierte Helden, Titanen, Fußballgötter und Zauberer, gelegentlich wurde sogar die Hand Gottes gesichtet.

Der kollektive Hang zum Pathos erfasste nicht nur Fußballkommentatoren, sondern auch Politiker, Feuilletonisten und ganz normale Berliner. Wer einmal gehört hat, wie Fußballfans einen knapp eins neunzig großen Mann als „Odonkor, Zaubermaus“ bejubeln, wünscht sich staubtrockene Vokabeln wie „Strukturreform“ oder „Antidiskriminierungsgesetz“ herbei. Plattitüden wie „Die Welt zu Gast bei Freunden“ oder „Weltmeister der Herzen“ gehören genauso in die Sprachmottenkiste wie „schwarz-rot-geil“ als Formel des „neuen, leichten Patriotismus“. Der darf ja gerne bleiben, ebenso wie die Schwalbe, sofern sie ein Tier ist. Auch der Bundestrainer darf bleiben, aber statt Klinsi mit kollektivem Possessivpronomen könnte man ihn einfach mal wieder bei vollem Namen nennen.

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Mehr Höflichkeit

Den meisten Neuberlinern erschien es wie ein Gerücht: Seit der Wende hat sich die Bevölkerung der Hauptstadt fast zur Hälfte ausgetauscht. Schwaben, Rheinländer und Niedersachsen rein, Bolle-Berliner raus.

Doch glauben mochte kaum jemand den gewaltigen Wandel, blieb die Betonmentalität doch unverändert. Brave Schwaben gaben sich, einmal nach Mitte gezogen, abweisend wie die Alteingesessenen. Das änderte sich während der WM. Busfahrer sprachen plötzlich Englisch, selbst 20-jährige Kunstgeschichtestudentinnen aus Mitte lächelten Unbekannte an. Das könnte zum großen Ziel Berlins für die kommenden Jahre werden! Nicht nur „arm, aber sexy“ könnten die Hauptstädter sein, sondern dauerhaft fehlerfrei im Umgang mit den vier Grundregeln menschlichen Umgangs: Erstens „Hallo“, zweitens „Tschüs“, drittens „bitte“ und viertens … Aber das kennen sie ja mittlerweile. MLO

Mehr Bewegung

Eigentlich fällt es schwer, nach dem kollektiven Freudentaumel so zu tun, als ob der Sommer so gut gelaunt weitergehen wird. Denn wer nun nicht zu den Urlaubern gehört, die den Fifa-Funktionären und Italienern in Richtung Badestrand hinterherjetten können, ist aufgeschmissen. All die Sommerabende vor der Kiezkneipe mit Blick auf den 6-Quadratmeter-Bildschirm weichen nun schlaflosen Nächten in der stickigen Butze.

Doch um nun nicht jämmerlich in Sommerdepri zu verfallen, gibt es Mittel, den Schweiß auch ohne Fußballgejohle fließen zu lassen: Wie wär’s, mal selbst wieder in die Treter zu schlüpfen und die ein oder andere Flanke zu wagen? Oder auch mal ein 10.000-Meter-Sprint durch die Hasenheide? Hitzehemmend ist auch der frühmorgendliche Sprung in den „Bergsee“, das ungeheizte Becken im Prinzenbad. Zugegeben: All diese spritzigen Dinge dienen nur einer Sache: dem Verschmerzen des WM-Entzugs. FLEE