Sterne über der Provence

Das Theaterfestival von Avignon ist noch immer das größte der Welt – und noch immer wird dort Poesie und Avantgarde größer geschrieben als Politik und Körpersäfte. Da erfreut jede Bosheit in einem Bühnenbild, das oft nur aus Scheinwerferlicht besteht

Äußerst ästhetisiert, glatt, störungsfrei. Am besten, wo die Vergangenheit der Moderne noch einmal zur Quelle wird

VON ANDREAS KLAEUI

Wird’s zum Jubiläum ein ruhiger Jahrgang? Die Eröffnung des 60. Theaterfestivals von Avignon verlief störungsfrei, in den Rängen und auf der Bühne. Keine Zuschauerproteste wie vor einem Jahr; keine Aufregung auf der Szene. Seit 1947 ist französisches Theater in den letzten drei Juliwochen synonym mit Avignon, mittlerweile ist „le Festival“ das größte Theatertreffen der Welt; nicht nur ein Schaulaufen der Jahresproduktionen, sondern immer auch ein Festival der Uraufführungen. Nur in Avignon kann ein Theater aus Rennes oder Tours mit einem Schlag das ganze Pariser Publikum ansprechen.

Was für eine Bedeutung es für Frankreichs Theaterproduktion tatsächlich hat, zeigte sich ausgerechnet vor drei Jahren, als es nicht stattfand. Die „Intermittents du spectacle“, die freiberuflich arbeitenden Bühnenschaffenden, hatten es bestreikt, um gegen neue Arbeitsregelungen zu protestieren – mit Tränen in den Augen. „La mort dans l’âme“ (den Tod in der Seele) hieß der Slogan: Sie brachten sich damit um die Frucht monatelanger Vorbereitungen und um den Auftritt auf der zentralen französischen Theaterplattform.

Vor einem Jahr haben die Intermittents den Kulturminister bei der Eröffnung des Festivals ausgebuht; heuer verlief die Premiere störungsfrei – was nicht heißt, dass alle Probleme der Intermittence gelöst wären. Und während der Choreograf und bildende Künstler Jan Fabre, 2005 zum Kodirektor bestellt, mit seinen Programmen, die sich weit von einem reinen Sprechtheaterkonzept lösten, in der letzten Ausgabe einen konservativen Teil des Publikums in Rage versetzte, blieb auch die ästhetische Empörung diesmal aus.

Josef Nadj ist der „Artiste associé“ dieser Ausgabe. Aus seinen Vorstellungen laufen die Leute nicht türenschlagend hinaus. Josef Nadj ist ein ruhiger Mann. Er verstört die Leute nicht wie Fabre mit fließenden Körpersäften auf der Bühne und ins Scheinwerferlicht gestellten privaten Obsessionen.

Er hat Martial Arts gelernt und legt Wert auf Contenance und Disziplin. „Asobu“ heißt sein Stück im Papstpalast von Avignon, das bedeutet „Spiel“ auf japanisch: Mit vier Butô-Tänzern, zwei japanischen zeitgenössischen Tänzerinnen und den Tänzerinnen und Tänzern seiner Truppe geht er auf eine metaphorische Japanreise. Für die Künstler jedoch dreht sich die Reiserichtung um und ist viel mehr real als metaphorisch. Inspirationsquelle dazu ist für Nadj Henri Michaux, der seine Japanerfahrungen in der Erzählung „Un Barbare en Asie“ (1933) kondensiert hat. Aber wie in Michaux’ Werk ist die Reise immer auch eine Reise ins Land der Träume, ins Unbewusste – es sind die suggestiven, rätselhaften Körper-Bilder, die von „Asobu“ in Erinnerung bleiben.

Der Ehrenhof im Papstpalast war noch nie so grau in grau zu sehen. Und das ist gar nicht negativ gemeint. Es ist ein leichtes Grau, ein helles Grau – wenn es das gibt, ein fließendes Grau. Die Farbe lebt im Zwielicht einer sparsamen Beleuchtung und im Flirren der Videobilder, die direkt auf die gotischen Palastmauern projiziert sind, in den fließenden Körpern der dunkel gekleideten Tänzer und in den sich ineinander schiebenden schwarzen Bühnenelemente. Immer wieder löst sich ein Solo aus der Gruppe, wogt eine chorische Linie zur Rampe; dies bekommt etwas sehr Zeichenhaftes, auch etwas Serielles wie in Michaux’ Tuschezeichnungen. Es gelingt Nadj mit seiner kleinen Truppe, die enorm breite Bühne im Papstpalast auszufüllen und erzählerisch zu bespielen.

Einmal ziehen sich die Tänzerinnen zerbrechlich langstielige Papierblumen aus dem Haar, ein halber Meter, ein Meter, es hört nicht mehr auf; einmal ballen sich die Tänzerkörper im Schattenbild zu koboldhaften Gestalten – das hat poetische Qualität. Und natürlich hilft dabei der Sternenhimmel der Provence, und der Mistral, der in den Tänzerkleidern spielt. Man muss Michaux’ Werk nicht kennen, um Figuren und Geschichten zu sehen; umgekehrt hilft es nicht viel, das Werk zu kennen, die Bühnenrätselbilder verweisen wenig auf eine Welt außerhalb und gefallen sich als Rätsel und Geheimnis. Für sich genommen sind sie ausdrucksvoll und stark, doch bleiben sie im Ganzen heterogen und fügen sich nicht zum zusammenhängenden Bogen.

Zum Trost erhalten alle Zuschauer einen hübschen Kartonumschlag mit gestrichelten Miniaturen von Josef Nadj, surrealistisch angehauchten, an Roland Topor erinnernden Federzeichnungen. Nadj wirkt als Maler, Skulpteur, Fotograf, Musiker, Tänzer – ein vielseitig Schaffender, einer, der Bilder mit den Mitteln des Theaters produzieren will. Er stammt aus der Vojvodina, das hieß, als er 1957 geboren wurde, Jugoslawien, einLand, das es heute nicht mehr gibt, wie er gern betont. Es bleibt in seinen Produktionen als imaginärer Ort ein Referenzpunkt. Hier war es auch, wo er die althergebrachten Kriegerkünste erlernte. Zum Studium ging er nach Budapest und entschied sich dort fürs Theater. 1980 zog er nach Paris, seither ist er in Frankreich geblieben und gründete 1986 seine eigene Truppe mit rund fünfzehn fixen Mitgliedern, Schauspielern und Tänzern. Mit ihren Produktionen ziehen sie landauf, landab und machen die Tour der Festivals, sie waren mehrmals in Avignon und auch im deutschsprachigen Raum zu sehen. Es ist vor diesem Background gewiss auch eine sehr persönlich gefärbte Wahl, wenn Nadj nun als Programm-Motto für Avignon den Begriff „ailleurs“ wählt, „anderswo“.

Dieses „Anderswo“ ist ein Begriff mit vielen Taschen. Er kann sich auf Japan beziehen und das Unterbewusste wie in „Asobu“; er kann Südafrika meinen wie in Peter Brooks „Sizwe Banzi est mort“, in dem Brook einen seiner thematischen Lieblinge aufgreift, das heiter-widerständige schwarze Theater im Apartheid-Regime. „Anderswo“, das kann die delirierende Einsamkeit der Astronautin Loretta Strong in Copis groteskem Stück meinen, der die Erde förmlich unter der Raumkapsel weg explodiert; oder es kann die künstlerische Genre-Überschreitung meinen, wenn Josef Nadj und Miquel Barceló zum tänzerisch-bildnerischen „Paso Doble“ ansetzen. So viel es bedeuten kann, so wenig muss man darüber streiten.

Das „Anderswo“ kann auch die Verbitterung der Künstlerwitwe meinen, die ihre guten Zeiten hinter sich hat und der Viviane de Muynck in „La Poursuite du vent“ großartige Gestalt gibt. Viviane de Muynck verkörpert ja so etwas wie die Pièce de résistance von Jan Lauwers’ „Needcompany“; gemeinsam haben Lauwers und sie nun dieses Einpersonenstück nach Claire Golls Memoiren erarbeitet. De Muynck ist eine hässliche alte Claire Goll, und was sie über ihre Künstlerfreunde sagt (zu denen ausnahmslos alle gehören, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Paris am Werk waren), ist die reine Médisance und deshalb durchaus erheiternd: Wie Gala Dalí aus ihrem Salvador ein Warenhaus gemacht hat, wie James Joyce seine Freunde rücksichtslos ausgenommen hat und „komplett blockiert“ war – ihn mochte sie gar nicht, nur Henry Miller konnte sie noch weniger ausstehen –, wie Cocteau aussah, nämlich „wie eine gerupfte Eule“, und mit welch unsäglicher Priesterattitüde André Breton den Begriff Surrealismus für sich gepachtet hat. Kleine Bosheiten erhalten die Freundschaft.

„La Poursuite du vent“ (mit „Haschen nach Wind“ zu übersetzen) ist kein großer Text – letztlich halt Namedropping einer Vergessenen –, doch Jan Lauwers und Viviane de Muynck mit ihrer einsamen Bühnenpräsenz machen daraus einen großartigen kleinen Theaterabend, in einem Bühnenbild, das nur aus Scheinwerferlicht besteht, aus mehreren Reihen unterschiedlich geformter und unterschiedlich heller Scheinwerfer, die sich zum leuchtenden Ornament und zur nahe liegenden Metapher fügen und am Schluss allesamt zu Boden fahren.

Ein sehr ruhiger Beginn für das 60. Festival von Avignon ist dies. Äußerst ästhetisiert, glatt, störungsfrei und am besten dort, wo die Vergangenheit der Moderne noch einmal zur Quelle wird – nach der Aufregung im letzten Jahr, hat man den Verdacht, wollen sich jetzt alle ein wenig beruhigen. Man wird sehen, was daraus noch wird.

Festival D’Avignon, bis 27. Juliwww.festival-avignon.com