: Wer schreibt, der bleibt
LITERATURBETRIEB Zeig mir, aus welcher Klasse du kommst, und ich sage dir, wie erfolgreich du als SchriftstellerIn sein kannst
■ geb. 1962, lebt in Neuss. Er hat hierzu auch den Essayband „Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft“ (Verbrecher Verlag) veröffentlicht. Auf diesen Beitrag wird eine Replik des taz-Literaturredakteurs Dirk Knipphals folgen.
Florian Kessler hat in der jüngsten Ausgabe der Zeit für angenehme Irritationen gesorgt: Die deutsche Literatur, vornehmlich die jüngere, werde nahezu ausschließlich von Abkömmlingen des Großbürgertums verfasst, sagt er. Es käme darauf an, Mitglied einer bestimmten In-Crowd zu sein, um in Deutschland literarisch erfolgreich zu sein.
Wirklich überraschend ist das nicht, und so begrüßenswert Kesslers Vorstoß auch ist, er geht noch nicht weit genug. Denn die Stromlinienförmigkeit der jungen deutschen Gegenwartsliteratur liegt nicht allein in der Erfolgsorientiertheit ihrer Verfasserinnen und Verfasser begründet. Sie ist Ergebnis ihres schichtenspezifischen Horizonts. Das gilt für den literarischen Betrieb insgesamt: Literatur wird in Deutschland von Menschen produziert, vermarktet und rezipiert, die aus gut situierten Verhältnissen stammen. Die Funktions- und Entscheidungsträger des literarischen Feldes, Autoren, Lektoren, Feuilletonisten, Angehörige von Preisjurys, Leiter von Literaturhäusern, sie bewegen sich alle in ein und demselben hermetisch abgeschlossenen gesellschaftlichen Teilsystem. Über Habitus, familiäre Kontakte und eigenes Netzwerken ist es ihnen gelungen, direkt nach dem Studium, ohne nennenswerte Lebenserfahrungen außerhalb ihres eigenen Sozialverbunds, ihr Pöstchen im Betrieb zu ergattern.
Ausschlussszenarien galore
Damit bildet der Literaturbetrieb jene Prozesse ab, die in der Gesamtgesellschaft ablaufen, Ausschlusszenarien einer sozialen Schicht gegen andere, unter ihr stehende, ja, man kann wieder von Klassen sprechen, gleich ob im Sinne Marx’ oder Webers. Jede neue Pisa-Studie, jeder Armuts- und Reichtumsbericht, jede Statistik, die sich mit diesen Sachverhalten befasst, bestätigt die soziale Undurchlässigkeit hierzulande, verbunden mit einer krassen Umverteilung von unten nach oben seit Anfang der neunziger Jahre.
Dieses Phänomen wird allerorten diagnostiziert, kritisiert und gegeißelt, selbst von konservativen Politikern; an der Tatsache des Ungleichgewichts ändert sich nichts, im Gegenteil: Jahr für Jahr, Studie für Studie fällt es immer gravierender aus.
Warum sollte das im Bereich der Literatur anders sein? Nun, früher galt Literatur als ein Medium der Erkenntnis. Ihr kam die Funktion zu, gesellschaftliche Entwicklungen zu beschreiben, zu analysieren, zu dekuvrieren. Diese Eigenschaft der Literatur war so sehr mit ihrem innersten Selbstverständnis als künstlerische Disziplin verwoben, dass man sich lange Zeit gar nicht vorstellen konnte, es könne Literatur geben ohne dies. Heute aber scheint die Literatur zum Helfershelfer der Exklusionsprozesse herabgesunken; statt diese kritisch zu begleiten, spiegelt sie die eigene Schicht und schafft ihr zusätzliche Legitimation. Kann das der Sinn von Literatur als Kunst sein, ist das noch Kunst, wenn sie nichts weiter ist als ein Wahrnehmungsdispositiv der oberen Klassen? Kunst als Selbstvergewisserung dieser Schicht, um ihr symbolisches Kapital zu mehren und ihre Deutungshoheit zu zementieren?
Die Vorlieben der Klasse
Das ist keine Verschwörung, denn es gibt keine Verschwörer, sondern schlicht gemeinsame Interessenlagen, gemeinsame Wahrnehmungsweisen, ästhetische Vorlieben einer bestimmten Klasse. Dass diese ihren Vorteil sucht und sichern möchte, kann man ihr nicht verübeln. Angehörige dieser Klientel, Schriftstellerinnen und Schriftsteller inklusive, tendieren intuitiv und zwangsläufig dazu, ihre Position und Sichtweise zu verabsolutieren, also „klassenkonform“ zu agieren.
Die Frage ist, wie das in der Praxis konkret vor sich geht. Natürlich ist in unserer pluralistischen Ästhetik kein Sujet, keine noch so ambitionierte formale Gestaltung per se ausgeschlossen. Unter bestimmten Bedingungen, nämlich einem günstigen Vermarktungsumfeld, ist beinahe alles möglich. Dennoch erhöhen komplizierte Erzählweisen, etwa Rückgriffe auf die Avantgardismen des 20. Jahrhunderts, Themen aus der sozialen Wirklichkeit, Figuren aus der Unterschicht oder dem Kleinbürgertum die Erfolgsaussichten für literarische Einsteiger nicht gerade. Wenn sie überhaupt einen Einstieg finden: Die Verlage sind daran meist wenig interessiert. Falls sich kein großer Publikumsverlag, sondern nur eine kleinere Edition zur Veröffentlichung bereit erklärt, ist für dieses Buch ein Aufmerksamkeitsdefizit schon vorprogrammiert. Angesichts der Menge des Geschriebenen kann man den Rezensenten nicht vorwerfen, dass sie sich lieber an das Bekannte halten, an Trends und „Likes“ und daran, Richtungen zu bündeln, die dem eigenen Selbstverständnis vertraut sind. Oder an Empfehlungen, Autoren, die man eh schon kennt, vielleicht gar persönlich, da man in ein und denselben Kreisen verkehrt. Die Bücher, die in den großen Feuilletons besprochen werden, tauchen wenig später in den Leseprogrammen der Literaturhäuser, Buchhandlungen und Festivals auf.
Elaborierter Mainstream
Was auf diese Art in Umlauf gerät, braucht auf Auszeichnungen nicht lange zu warten. Stipendien und Preise etablieren die Autorin, den Autor weiter im Gesichtsfeld der eigenen Klientel, halten sie oder ihn aber gleichzeitig dazu an, den beschrittenen Pfad nicht zu verlassen und gar etwas völlig Neues zu probieren. Zu groß die Gefahr, sich die Gunst des Betriebs gleich wieder zu verscherzen. Stattdessen reproduziert der Autor, die Autorin das, was ihm und ihr Eintritt in die literarische Welt ermöglichte. Heraus kommt der handwerklich vorbildliche, hoch elaborierte Mainstream, den in Deutschland heute so viele so gleichartig pflegen. Eine Literatur, die sehr langweilig ist, da sie zu großen Teilen von Autorinnen und Autoren verfasst wird, die nichts erlebt und nichts zu erzählen haben. Nur wenige, einzelne wie Jirgl, Goetz oder Röggla, versagen sich dem Hauptstrom.
Das soll nun beileibe kein Plädoyer für eine „Literatur von unten“ sein, denn die gibt es nicht, gab es nie und wird es nie geben – höchstens in Ausnahmefällen. Vielmehr ist dies ein Statement dafür, der Literatur das wiederzugeben, was ihr ureigenster Charakter ist: ihre politische Analysefähigkeit, ihre ästhetische Integrität und damit – ihre Würde. ENNO STAHL