: „Historische Allüren“
INTERVIEW MANFRED HETTLING UND CORNELIUS TORP
taz: Halten Sie den „Historikerstreit“ im Nachhinein für ergiebig – sei es wissenschaftlich oder für das Geschichtsbewusstsein der Bundesrepublik?
Hans-Ulrich Wehler: Ich fand ihn von Anfang an wissenschaftlich unergiebig. Beim Historikerstreit hatte ich immer das Gefühl, dass es sich um einen Streit um das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik handelte. Ich wollte mich nicht gleich zu Beginn äußern, obwohl damals die Feuilletons und auch die politischen Teile der Zeitungen ganz heiß auf neue Äußerungen waren. Das Telefon bei mir zu Hause hörte manchmal gar nicht auf zu klingeln.
Als ich dann arbeitsmäßig wieder etwas Luft hatte, habe ich in drei Wochen den Essayband über die „Entsorgung der deutschen Vergangenheit“ geschrieben. Auch wenn die ganze Sache wissenschaftlich nicht produktiv war – es ging damals darum, Flagge zu zeigen. Heute noch denke ich, dass es sich gelohnt hat, bei dieser Debatte über das Selbstverständnis der Bundesrepublik noch einmal Kontra zu geben.
Der zentrale Vorwurf an Ernst Nolte, Andreas Hillgruber und die anderen war der, dass sie die Einzigartigkeit des Holocaust leugneten. Die Shoah, so das Argument, dürfe mit Stalins Kulakenvernichtung oder den Morden Pol Pots nicht in einem Atemzug genannt werden. Ist das nicht ein implizites Vergleichsverbot?
Die Wichtigkeit des Vergleichs ist ja ganz unbestritten. In der Situation des Historikerstreits hatte die Gegenseite den Ruf nach dem Vergleich aber so angelegt, dass der Nationalsozialismus durch den Vergleich mit dem Massenmord des Bolschewismus von vornherein relativiert wurde. Die blutige Spur des Leninismus/Stalinismus bei der Herrschaftskonsolidierung, der Bolschewisierung des Landes, im Gulag, bei der Kulakenvernichtung ist ja völlig unbestritten.
Aber der vom „Dritten Reich“ und seinen Deutschen durchgeführte industrielle Massenmord an sechs Millionen Juden ohne Ansehen des Alters und des Geschlechts bleibt zusammen mit der Vernichtung von ebenfalls Millionen slawischer „Untermenschen“ ein singuläres Ereignis, das man mit der sowjetischen Barbarei auf unzweifelhaft niedrigerem zivilisatorischen Entwicklungsniveau vergleichen kann, um Unterschiede und Ähnlichkeiten herauszuarbeiten; für die angestrebte Relativierung taugt der Vergleich aber nicht.
Wäre es für die damalige Situation hilfreich gewesen, wenn es damals schon ein „Schwarzbuch des Kommunismus“ gegeben hätte?
Sicher. Wenn auch die Zahlen nicht überall stimmen, war das eine furchtbare Bilanz, die als Gegengewicht ernst genommen werden muss. Deshalb habe ich damals immer bedauert, dass die Osteuropa-Historiker sich nicht am Historikerstreit beteiligten: 30 oder 60 Millionen Opfer des Stalinismus, 30 Millionen des Maoismus, das sind doch erschreckende Größen.
Heute bekommen wir das von jungen Russen zu hören: Regen Sie sich doch mal ab mit ihren Juden. Stellen Sie sich doch einmal vor, wir kommen aus einem Land, wo es die zehnfache Zahl an Toten gab.
Warum ist der Streit ausgerechnet Mitte der 80er-Jahre ausgebrochen?
Das hatte viel mit dem politischen Klima zu tun. Helmut Kohl war gerade im Amt bestätigt worden war. Für die Kritiker war damals entscheidend, dass sie Helmut Schmidt eigentlich für den optimalen Bundeskanzler gehalten hatten und es diesem Pfälzer nicht gönnten, dass er auf diese Weise die Koalition gekippt und dann noch einmal in einer Bundestagswahl gewonnen hatte. In dieser Situation schien sich eine Art intellektuelles Klima entwickeln zu können, wo Leute wie Michael Stürmer mit ihrem Identitätsgesäusel oder Andreas Hillgruber – von dem ich ja sonst als Historiker viel halte – mit diesem unsäglichen Bändchen über „Zweierlei Untergang“ und Nolte mit Hitler als dem bürgerlichen Anti-Lenin auftraten. Das schien einen Vorstoß anzuzeigen. Wenn man es aus der anderen Perspektive sieht, könnte man sagen: ein Vorstoß, der die Hegemonie der linksliberalen Öffentlichkeit in Frage stellte.
Wieso hatte das mit Kohls Politik zu tun?
Man wusste einfach nicht, was daraus werden würde, als Kohl diese historischen Allüren entwickelte: Händchenhalten in Verdun mit Mitterrand, um der Toten beider Weltkriege zu gedenken, oder auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg mit Reagan einen Kranz niederlegen, obwohl da auch Angehörige der Waffen-SS bestattet wurden.
Wenn man das noch einmal aus der Distanz sieht, ist der Streit zum großen Teil zu erklären aus der Atmosphäre der späten 80er-Jahre und der Befürchtung, es könne einer mächtigen Koalition von Konservativen gelingen, unterstützt von einigen Helfern in der Publizistik und in der Wissenschaft, den Nationalsozialismus zu relativieren. Das ist damals sicher eine Überdramatisierung gewesen. Es wäre auch eine ganz interessante kontrafaktische Frage, wie sich die Diskussion ausgewirkt hätte, wenn nicht zwei, drei Jahre später die Vereinigung erfolgt wäre. Dann traten auf einmal andere Probleme in den Vordergrund.
In der politischen Öffentlichkeit ist durch den Historikerstreit die Haltung der pauschalen Distanzierung vom Nationalsozialismus noch einmal bekräftigt worden. War deshalb der Historikerstreit nicht der Pyrrhussieg Ihrer Generation und hat die Historisierung im Sinne Martin Broszats bis heute verhindert?
Broszat haben wir damals alle gelesen. Mir leuchtete das Historisierungsargument völlig ein. Es kann sehr gut sein, dass sein Plädoyer, wenn der Historikerstreit nicht gekommen wäre – den Broszat leidenschaftlich von der ersten Woche an contra Nolte mitgemacht hat –, auf eine andere Rezeption gestoßen wäre und es eine andere Debatte gegeben hätte. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass die Teilnehmer, die ich kannte, der Historisierung ausgewichen sind. Der Historisierungsappell von Martin Broszat entsprach auch tiefen Instinkten, die die Historiker antrainiert bekommen, fremdartige Phänomene, je länger sie zurückliegen, desto intensiver zu historisieren.
Auch in der Geschichtswissenschaft scheint es eine Verschiebung des Fluchtpunkts gegeben zu haben. Stand nicht am Anfang der Verfall von Weimar und die Etablierung des Nationalsozialismus im Mittelpunkt, und inzwischen ist es der „Zivilisationsbruch“?
Das kommt in meinen Augen unter anderem durch den postmodernen Einfluss einiger Theoretiker wie Zygmunt Baumann. Denn sie propagieren, dass die Pathologie in der modernen Welt angelegt und der Holocaust ihr Paradebeispiel sei. Dann wird er universalisiert nicht als Einmalereignis, sondern als permanent drohende Gefahr – dadurch entsteht eine Art Lust an der Leugnung der deutschen Sonderbedingungen und ein Glaube an allgemeine Entwicklungstendenzen der modernen Welt. Da ist dann eben dieser pathologische Entwicklungspfad, und wenn man nicht aufpasst, dann wiederholt er sich. Das ist für Jüngere, die in dem postmodernen Klima groß werden, offenbar unmittelbar einleuchtend.
Sie zweifeln offenbar an der Rationalität dieses Gedankens. Welchen Ansatz ziehen Sie vor?
Den, der die Mühseligkeiten der empirischen Niederung nicht scheut. Man möchte doch gerne wissen, was soll man vom Reichssicherheitshauptamt und Michael Wildts Studie dazu halten oder von dem skeptischen Generationsbegriff von Ulrich Herbert. Und wo hat es denn Vergleichbares in England, Schweden, Frankreich gegeben? Ist es wirklich legitim, das abzulösen von deutschen Sonderbedingungen? Die postmoderne Debatte löst historisch relativ konkrete Entwicklungen in Allgemeinheiten auf. Das wird durch Foucault verstärkt, weil er diesen Trend zur Disziplinargesellschaft betont, die unterschiedlich ausgegrenzte Gruppen vergewaltigt, ohne dass Menschen sich dessen bewusst sein müssen. Ich glaube, dieser Trend zur Pathologisierung der Geschichte der Menschheit, der universalisiert das Holocaustexempel mit einer halb moralisch empörten und halb lüsternen Erwartung, dass es das nächste Mal wieder hochkommen könnte.
Kann man denn überhaupt aus der Geschichte lernen?
Die Frage ist, woraus man überhaupt etwas lernen kann, wenn nicht aus der Geschichte, weil es für den Menschen nur ein historisches Orientierungswissen gibt. Es gibt die große Alternative, dass man sich einen utopischen Entwurf zurecht legt, der wird aber gewöhnlich ebenfalls aus irgendwelchen historischen Erfahrungen gespeist. Aber die Erfahrung, die mehrere Generationen mit diesen Utopien gemacht haben, sind einigermaßen deprimierend. Ich habe nie geglaubt, dass Beschäftigung mit Geschichte in Entscheidungssituationen einem sagt, ob man in Mogadischu die Maschine stürmen oder das eben bleiben lassen sollte. Aber es gibt natürlich im Vorfeld von Entscheidungen hilfreiche historische Informationen, was die Konfliktlage angeht oder wie vergleichbare Konflikte ausgegangen sind. Das kann sich dann aber nicht, das wäre eine naive Vorstellung, umsetzen in unmittelbares Entscheidungswissen, das einen zielstrebiger und besser steuert.
Im Kontext von Auschwitz wird oft gefragt: Was kann man aus der Shoah lernen?
Dass in einem Land, das im Frühjahr 1914 wohl von der erdrückenden Mehrheit der Engländer, Franzosen, Amerikaner als eines der zivilisierten Länder der Welt betrachtet worden ist, durch den Ersten Weltkrieg und die Zeit danach ein solches Unheil angerichtet worden ist, dass es möglich wurde, einen Teil der Bevölkerung so zu stigmatisieren, dass man schließlich vor der Ermordung nicht zurückschreckt.
Damit befinden wir uns aber noch auf der Ebene der Erklärungen. Lernen bedeutet ja mehr als erklären. Lernen heißt handlungsleitendes Wissen erzeugen.
Es kommt darauf an, welche Ansprüche man mit Lernen verbindet. Man kann etwa aus der deutschen Entwicklung seit 1914 lernen, dass es keine Sicherheit gibt, dass ein Volk der Dichter und Denker mit hohem Industrialisierungsniveau und entwickelter Gerichtsbarkeit, einem hohem Grade der Emanzipation und vielem anderem dagegen gefeit ist, eine menschenverachtende und mörderische Politik durchzusetzen, wenn der Staatsapparat von einer politischen Bewegung mit entsprechenden Zielen übernommen worden ist.