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Archiv-Artikel

Lass dich nicht erwischen!

Natur-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz sind das Einfallstor für eine neue autoritäre Politik. Ein Plädoyer für einen bürgerlichen Anarchismus

VON KATHARINA RUTSCHKY

„Die Schwierigkeit besteht darin, nur notwendige Gesetze zu erlassen und diesem wahrhaft konstitutiven Prinzip der Gesellschaft treu zu bleiben, wachsam zu sein gegen die Wut des Regulierens, die unheilvollste Krankheit moderner Regierungen.“

Mirabeau d. Ä. (1715–1789) in „Sur l’éducation publique“

„Es wird niemals einen freien und aufgeklärten Staat geben, ehe der Staat nicht den Einzelnen als die höhere und unabhängige Macht anerkennt, aus der seine eigene Macht und Autorität nur abgeleitet ist.“

Henry Thoreau (1817–1862) in „Ziviler Ungehorsam“

Im Berliner Tiergarten stößt man noch heute auf das Schild „Liegewiese – Ballspiele nicht gestattet“. In den Sechzigerjahren war das Gartenamt genötigt, dem Bedürfnis der Bürger nach dem Betreten des Rasens Konzessionen zu machen. Nur zähneknirschend markierte man einige Rasenflächen als „Liegewiesen“, kompensierte aber die Abtretung der absoluten Grünherrschaft wenigstens durch ein neues Verbot, das umso überzeugender klang, als es vorausschauend und fürsorglich die Sonnenbader vor der Belästigung durch Fuß- und Volleyballer zu schützen versprach. Seither ist viel passiert: Heute legt sich der Bürger hin, wo es ihm passt, womöglich sogar splitternackt, Ballspiele kommen auch vor, und noch schlimmer: Das Volk der Jogger im Verein mit streunenden Spaziergängern ignoriert sogar das angebotene Wegenetz und hat den Park seit langem mit einem System von „Trampelpfaden“ durchzogen.

Dabei scheinen die meisten bei den Verstößen gegen die Parkordnung nur von der Sorge geplagt, sich nicht erwischen zu lassen. Ein schlechtes Gewissen hat der bürgerliche Anarchist nämlich nicht, wenn er im Park oder anderswo gegen Gesetze verstößt, die seinen Interessen ebenso widersprechen, wie sie seine Vernunft verhöhnen.

Die Kultur des Alarmismus verlangt zwar, dass jede Woche eine neue Sau durch die Blätter getrieben wird und hat neben Unterhaltungswert zweifellos auch Wallungswert für Talkshows und den Stamm der Leserbriefschreiber. Man übersieht dabei aber gern, dass 98 Prozent des Publikums sich jederzeit zurechnungsfähig betätigen.

Falsche Fürsorglichkeit

Wer kann es (um ernstere Beispiele aufzugreifen) aber Klienten des Sozialstaats, Firmen, Haushalten und Steuerzahlern verübeln, wenn sie ihren Grips darauf verwenden, ein System auszutricksen und zu umgehen, das angeblich das allgemeine Beste vertritt, aber ihre persönlichen Interessen grundsätzlich verdächtigt, individuelles und rationelles Verhalten nur als Bedrohung versteht und zunehmend zum Mittel fürsorglicher Bevormundung und sogar Kriminalisierung greift? Kurt Biedenkopf hat das kürzlich ungefähr so formuliert: Was im großen Rahmen als Strukturanpassung, Gesetzesänderung, wohl gar progressive Reform beschlossen wird, gilt auf der individuellen Handlungsebene als Sozialbetrug und streng genommen als Verrat am Gesellschaftsvertrag. Ich habe keinen geschlossen, nicht einmal so einen kleinkarierten, wie er für Einbürgerungswillige obligat werden soll.

Die unterstellte nationale Wertegemeinschaft, die sich so defensiv positioniert, hat einfach noch nicht begriffen, dass wir in einer „Gesellschaft der Individuen“ (Norbert Elias) leben und sie nur um den Preis der Reaktion hintergehen können. Die Parole „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“ taugt eben nicht für die Institutionen der Zivilgesellschaft, sondern nur für die Individuen. Ihr Misstrauen kann produktiv sein, das der Institutionen mit ihrem Zwang zu flächendeckenden Regelungen ist nur lähmend. Die Leute machen zum Glück ja trotzdem unverdrossen, was sie wollen. Als aufgeklärte Bürger können sie heute nicht mehr von der Revolution träumen und gehen auch selten den Weg des querulatorischen Fundamentalismus.

Warum Berufspolitiker so gering geachtet sind, Justiz und Verwaltung misstraut wird, die Bürokratie, deren sie sich bedienen, zu einem populären Hasswort geworden ist, hat aber doch einen Grund. Ungeschlichtet stehen das Individuum, seine Freiheit, seine Interessen und vorzüglich seine Kompetenz einem System gegenüber, dessen Ideale es heute völlig teilt, ihre Durchführung in eigener Regie aber bevorzugt. Professionelle Politik, Bürokratie und der Rechtsstaat, der an sie anschließt, waren einmal progressiv. Für Max Weber fußte Bürokratie auf Sachkenntnis, war aktenförmig und also nachprüfbar. Sie war Beamten anvertraut, die neutral jedem Bürger Dienst tun und als fest Besoldete das auch in Unabhängigkeit von parteilichen Einflüssen und mächtiger Interessengruppen tun können.

Ist dieser Fortschritt unhintergehbar, so ahnte doch schon Max Weber die Gefahren, die gerade der Demokratie mit ihren Idealen allgemeiner Volksbeglückung durch die Bürokratie drohen. Der große Soziologe (1864 – 1920) untersuchte Herrschaftsformen und hat bisher keinen Nachfolger gefunden, der uns die Herrschaftsform erklärt, die ein demokratischer Rechtsstaat darstellt, vorzüglich einer, der nicht nur Verfahrensgerechtigkeit garantiert, sondern auch das Gute,Wahre und Schöne flächendeckend und unter Ausschaltung jedes Risikos zum Ziel seines Handelns erhoben hat. Es ist sympathisch und billig zugleich, sich über die Missachtung der Presse- und Meinungsfreiheit in China, die Missachtung der Menschenrechte irgendwo auf dem Globus zu echauffieren und Partei zu ergreifen. Diese Probleme haben wir nämlich schon gelöst, ohne das einheimische gelöst zu haben, das zu Wahlmüdigkeit, Politikverdrossenheit und Resignation geführt hat.

Bürokratisierte Moral

„Die da oben – ich hier unten“: Bürgersprechstunden, Bürgerbeteiligung bei Planungsmaßnahmen und das wiederholte Versprechen auf „Bürokratieabbau“ nebst einer Verwaltungssprache, die auch Nicht-Juristen verständlich ist, sind Versuche des Systems, dem entgegenzusteuern. Schließlich laufen ja inzwischen auch Neonazis mit dem Grundgesetz unterm Arm herum und klagen ihre Rechte auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit ein. Mit denen können wir besser leben als mit der fürsorglichen Okkupation der individuellen Selbstbestimmung durch ein demokratisch und bürokratisch legitimiertes Gemeinwesen, das nicht mehr nur gleiche Rechte, sondern den Wunsch nach einer höheren Moral des Gemeinwesens zum Ziel des politischen Handelns und erhoben hat.

Wo ist der Max Weber, der uns die Mischung von Demokratie, Berufspolitik, Medienmacht und Missachtung des Individuums, seiner Freiheit und seiner Kompetenzen und der unverzichtbaren Bürokratie als Herrschaftsform erklären kann? Man teilt die Ideale von Frau Künast, Herrn Sommer oder Herrn Stoiber – heißen sie nun Gerechtigkeit, Sicherheit oder Gesundheit – liegt aber als Bürger mit der Durchführung schwer über Kreuz!

Das höchste Gut, auf das sich die fiktive „Gesellschaft“ mit ihrem fiktiven Gesellschaftsvertrag, den Medien, die von ihnen abhängigen Berufspolitiker und eine traditionelle Verwaltung scheinbar geeinigt haben, ist die Sicherheit. Richtig ist, dass der moderne Staat sich legitimiert durch die Gewährung innerer und äußerer Sicherheit. Werden deutsche Interessen heute eher am Hindukusch oder durch diplomatische Vermittlung verteidigt, so beschäftigt uns die weit gefasste innere Sicherheit um so mehr.

„Es ist still geworden um die Vogelgrippe“, las ich neulich, und der Satz war nicht ironisch gemeint. Von BSE hat man ja auch nichts mehr gehört, obwohl in diesem wie in jenem Fall Millionen von Nutztieren gekeult und um ihren Lebenssinn restlos gebracht wurden. Das Ganze nach der Sicherheitsdevise: Man kann nicht vorsichtig genug sein!

Vereinzelte Fälle von Kindesmisshandlung, haben Politiker und allzeit wache Lobbyisten, ganz im Sinne dieses Modells von allgemeiner Fürsorge und individueller Verdächtigung auf die Idee gebracht, die neunmalige Überprüfung von Kindern vor ihrer Einschulung zur Pflicht zu erheben. Andere – oder vielleicht sind es auch dieselben – wollen jetzt das Rauchen kriminalisieren. Hier fährt man dreigleisig. Während man den Sündern ihr Laster immer weiter verteuert, klärt man sie schon länger auch drastisch über den Schaden auf, den sie sich selbst zufügen. Weil der Appell ans öffentlich wahrgenommene Eigeninteresse auch nicht zündet, rekurriert die Politik aufs allgemeine Beste – vertreten durch den „Passivraucher“.

Ein symptomatischer Fehler unserer Volksvertreter ist der Glaube an große Lösungen, die, nach der Erörterung in Experten- und Ethikkommissionen dann vor dem Verfassungsgericht oder gar auf EU-Ebene einklagbar wären. Neben dem schon traditionellen Kinder- und Jugendschutz sind Natur-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz das Einfallstor für eine neue autoritäre Politik, die den Bürger und seine Freiheit ebenso wie seine Kompetenzen nicht weniger missachtet, als es der wilhelminische Obrigkeitsstaat vor hundert Jahren getan hat. Zwar könnte man heute verlangen, dass die politisierenden Hausfrauen, deren Sicherheitspsychose geschlechtsübergreifend wirkt, ihre Energie auf echte Menschheitsziele verwenden. Wie die Dinge liegen, kann man es aber keinem verübeln, seine Ratlosigkeit in eine Politik innerer Sicherheit zu überführen, die so konventionell wie symbolisch ist, aber in der Öffentlichkeit Furore macht. Wenn Revolution nicht mehr taugt, bleibt doch der neue bürgerliche Anarchismus als Ausweg. Die Devise lautet nicht länger „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, sondern „Leute, macht, was ihr verantworten könnt – lasst euch aber nicht erwischen!“

Neuartiges Misstrauen

Sterbehilfe zum Beispiel hat es immer gegeben. Neu ist das Misstrauen, das sich Ärzten und Angehörigen gegenüber artikuliert und politisch aufgegriffen wird. Vertraute man der öffentlichen Rede, geht es entweder um das Gute,Wahre und Schöne der Zukunft oder die Abwehr eines Missbrauchs, mit dem die Grundlagen des Gesellschaftsvertrags erschüttert werden. Die eine wie die andere Idee zeugt aber nur von der Versuchung der Politik durch die Bürokratie, die das allgemeine Beste öffentlichkeitswirksam, aber erfolglos zu installieren erlaubt. Wie aber ein ererbtes bürokratisches Herrschaftssystem sich selbst kritisieren und rückbauen, wie eine Gesellschaft sich anders, denn über Skandale und Ideale, die in Gesetzen erstarren, zusammenfinden kann, ist unklar.

Neben der Aufklärung haben das Selbstbewusstsein und die Kompetenz der Untertanen zugenommen. Jeder macht, was er will und vor sich und dem Nächsten verantworten kann. Das System rechnet mit den Abweichlern statt mit dem Anarchismus – in der bürgerlichen Variante.