: Ein Drumbeat wie ein Weltkulturerbe
SOUL Call me the doctor: Der große Dr. John trat zum einzigen Deutschlandkonzert in München auf
Durch die Abendhitze vor dem Hotel Bayerischer Hof in der Münchener Innenstadt flanieren Gruppen verschleierter saudischer Frauen, die sich sommers traditionell in den Krankenhäusern der Landeshauptstadt behandeln lassen. Auch die einst zu Ehren des bayerischen Königs Ludwig I. vis à vis des Hotels errichtete Säule auf dem Promenadeplatz ist von Kopf bis Fuß verschleiert. Michael-Jackson-Fans haben sie zu einem Schrein umfunktioniert, versehen mit Fotos, Kerzen und frommen Wünschen für ihr verstorbenes Idol. Zu Lebzeiten war der King of Pop Stammgast im Bayerischen Hof.
Vor der Lobby des Hotels hat sich eine stattliche Menschenmenge gebildet. Es sind in der Hauptsache Best-Ager, die Reste des Schwabinger Chics früherer Jahrzehnte, aber auch Jazzfans und Habitués der Bussi-Bussi-Gesellschaft in feinen Abendkleidern und hochhackigen Schuhen. Sie warten auf das Konzert von Dr. John. Manche hoffen aber auch, Cameron Diaz und Tom Cruise zu sehen, die für ihren gerade gestarteten Kinofilm „Knight and Day“ die Werbetrommel rühren und ebenfalls im Hotel abgestiegen sind.
Piano und Hammondorgel
„Call me the doctor / I’m your Medicine Man / Who got the cure in the palm of my hand“, singt Dr. John gleich im Auftaktsong „Feelgood Music“ auf seinem neuen Album „Tribal“. Ob er die richtige Medizin für Michael Jackson gehabt hätte? Wohl kaum. Die Botschaft seines Songs bewahrheitet sich aber wenig später auf der Bühne im ausverkauften prunkvollen dreistöckigen Hotelfestsaal. Dr. John kommt am Stock auf die Bühne getrippelt, erst an seinen Instrumenten erwacht er wirklich zum Leben. Eingezwängt zwischen seinem Piano und einer holzvertäfelten Uralt-Hammondorgel, wandern seine Finger blind über die Tasten. Schlafwandlerisch sicher sieht das dann aus, bei allen perlenden Boogieriffs und pumpenden Orgeltönen.
Auch die Stimme des 70-jährigen Musikers klingt nuanciert wie eh und je. Das melodische Krächzen, die Art, wie er Vokale dehnt, Pointen verzögert und Töne verschleppt, hat ja viele Nachahmer gefunden, hierzulande am prominentesten in Udo Lindenberg. Die Körnung in Dr. Johns Stimme ist aber eine andere. Ihre Wurzeln hat sie im Soul der Fünfziger und Sechziger und wurde in einer beispiellosen Karriere mit Höhen, aber auch haarsträubenden Tiefen wetterfest. Dr. Johns jahrzehntelange Heroinsucht hat ihre Spuren hinterlassen. Er wirkt dankbar, aber nicht unterwürfig. Etwas unnahbar sieht er aus in seinem hellblauen Anzug, dem Hut und der dunklen Sonnenbrille. Dass er nun in einem Hotel spielt, ist gar nicht so weit entfernt von seinen Anfängen. Schon als Teenager spielte Dr. John in R&B-Bands und tingelte mit ihnen durch die Clubs von New Orleans.
An diesem Abend wird er von zwei Voudou-Totenköpfen, die gut sichtbar auf seinen Tasteninstrumenten drapiert sind, begleitet und von einer dreiköpfigen Band namens the Lower 911. Wie Dr. John stammen auch die drei Musiker aus New Orleans. Der Lower 9th Ward, der im Bandnamen anklingt, ist das am schlimmsten vom Hurrikan „Katrina“ verwüstete Viertel der Stadt. „Lay my burden down“, ein Gospelstandard gegen Ende des zweiten Sets, suggeriert spirituelle Erleichterung. Nicht nur für die vom Schicksal gebeutelte Stadt. „All my sickness will be over / when I lay my burden down“, heißt es da; was aber pathetisch und schwermütig klingt, wird in Händen von The Lower 911 ganz leicht, weil sie nicht nur das Rhythmusfundament für Dr. John schmucklose Melodie am Piano legen, sondern auch noch bravourös den Chorgesang übernehmen. Ein Höhepunkt des Konzerts, wie auch die beiden Hits „Qualified“ und „Right Place, Wrong Time“ aus dem gleichnamigen Album von 1973. Der markante „2nd Line Drumbeat“, ein Rhythmus, der zum Weltkulturerbe gehören sollte, lässt auch die Damen der feinen Münchner Gesellschaft wippen.
Dr. John selbst stammt aus dem kleinbürgerlichen 3rd Ward von New Orleans und ist im Viertel Treme aufgewachsen. In der gleichnamigen US-Fernsehserie von David Simon hat er natürlich einen Auftritt. Mit vollem Künstlernamen nennt er sich da Dr. John, the Night Tripper. Auch im richtigen Leben verfügt der Quacksalber-Nachtwandler über magische Kräfte. Wahrscheinlich hat er mit diesen nach dem Konzert die Feuerwehr zu einem Einsatz direkt vor dem Hotel dirigiert. JULIAN WEBER