: Der Vier-Etagen-Durchlauferhitzer
Im Hamburger Schanzenviertel entsteht mit dem Haus 73 ein Veranstaltungszentrum, das nicht nur viel Platz in bester Lage, sondern auch ein außergewöhnliches Konzept hat: Realisiert wird das Projekt von Studenten, die sich in der Pferdestall Kultur GmbH zusammengetan haben
von Klaus Irler
Während vorne im Eingangsbereich die Kicker aus Armenien und Kasachstan geehrt werden, steht der Sänger Raw vor der niedrigen Bühne im hinteren Teil des Gebäudes und schreit ins Mikrophon. Dabei schaut er auf seine Bandkollegen von der Hamburger Reggae-Band I-Fire, aber um‘s sehen geht es gar nicht, es geht um‘s Hören. Mit den Boxen stimmt was nicht. Die Band spielt, Raw rappt, seine Haare wippen unter der großen Rastafari-Strickmütze und an dem kleinen Mischpult vor der kleinen Bühne werden Knöpfe gedreht. Vielleicht liegt‘s an den Kabeln. „Mir scheißegal, was da rauskommt“, sagt Raw. „Ich spiele auf jeden Fall.“
Eine Diva, denkt man sich, ist Raw nicht. Wie auch die ganze Umgebung nichts divenhaftes hat: Die Wände sind erst grob verputzt, es gibt noch keinen Boden und das Geländer nach unten zu den sanitären Anlagen ist nur ein Provisorium. Trotzdem feiert man an diesem 20. Juni das Abschlussfest der „Abseits-WM“, einem Fußballturnier, bei dem Asylbewerber aus der ganzen Welt gegeneinander antraten. Das Turnier war die erste größere Veranstaltung im Haus 73, dem neuen Veranstaltungshaus am Schulterblatt, das alles andere als fertig eingerichtet ist: Im vergangenen Herbst hat die Pferdestall Kultur GmbH das Haus gemietet und ist seitdem dabei, die ehemaligen Büro- und Lagerräume der Modefirma Cocon Commerz umzubauen.
Und das eigenhändig, so weit es möglich ist: Die Pferdestall Kultur GmbH wurde 2003 von einer Gruppe Studenten gegründet und ist entstanden aus dem studentischen Pferdestall-Team, das ab 2000 mit finanzieller Unterstützung des Asta Kulturveranstaltungen an der Uni gemacht hatte. Immer noch sind die Gesellschafter der GmbH zum Großteil Studenten, ebenso wie diejenigen, die mitarbeiten am Haus 73 – sei es bei der Öffentlichkeitsarbeit, hinter dem Tresen, beim Booking oder auf der Leiter mit Spachtel und Mörtel. Mittlerweile beschäftigt die GmbH 13 fest Angestellte, 55 Minijobber, sechs Honorarkräfte und zwei Praktikanten. „Darüber hinaus engagieren sich viele der Mitarbeiter und viele Freunde von uns bei der Renovierung des Hauses 73 ehrenamtlich“, sagt der 36-jährige Geschäftsführer der GmbH, Falk Hocquél.
In den letzten Monaten wurde das Haus entkernt, nur die 50er-Jahre-Treppe in den ersten Stock hat man erhalten. Lüftung, Bühnen, zusätzliche Treppenaufgänge und Eingänge werden gemacht, Tresen müssen gebaut werden, eine Küche soll in den ersten Stock kommen. 500.000 Euro koste der Umbau, sagt Geschäftsführer Hocquél. Kreditgeber sind die Brauereien InBev und Carlsberg, außerdem habe man Gelder der GmbH investiert und die Zahl der Gesellschafter wird von neun auf 18 erweitert.
Insgesamt drei Veranstaltungsräume sollen auf den vier Etagen des Hauses 73 entstehen. Außerdem sind ein Café und ein „Kochsalon“ geplant. „Wir finanzieren über wirtschaftliche Veranstaltungen wie Parties oder die Gastronomie die nicht-wirtschaftlichen Veranstaltungen wie Theater oder Konzerte“, sagt Hocquél, der in Wien Schauspiel und in Hamburg Regie studiert hat. Damit soll das Haus 73 genauso funktionieren wie die Pony Bar, die Astra Stube und die Galerie 14 Dioptrien – alle drei Häuser sind Projekte der Pferdestall Kultur GmbH, alle drei machen Kulturveranstaltungen und denken bei der Preispolitik an ein studentisches Publikum: Das Astra gibt es in der Pony-Bar für 1,80 Euro, das Hefe-Weizen für 2,50. Die Eintrittspreise für Kulturveranstaltungen sollen sich im Haus 73 zwischen vier und neun Euro bewegen.
Möglich ist das, weil das Haus 73 für viele als Sprungbrett funktioniert: Die Künstler stehen zumeist an der Schnittstelle zwischen Uni und Karriere. Gage gibt es nur, wenn etwas übrig bleibt, dafür gibt es Kost und Logis und die Chance, sich zu präsentieren – „wir sind da der Durchlauferhitzer“, sagt Hocquél. Auch für die Leute hinter den Kulissen gehe es meistens „um das Lernen für das Berufsleben“. Man muss sich die GmbH wohl vorstellen wie ein familiäres Praxistraining: Man lernt voneinander, gering bezahlt aber mit professionellem Anspruch und hoher Identifikation mit der Firma, die den Mitarbeitern viele Gestaltungsräume bietet.
Mindestens 100 Veranstaltungen im Bereich Stadtteilkultur und mindestens 20 im Bereich Hochkultur müssen laut Vertrag mit dem Bezirksamt Atona pro Jahr stattfinden. Hocquél geht allerdings davon aus, „dass wir 300 bis 500 Veranstaltungen pro Jahr haben werden“. Wobei der Kulturbegriff der Macher sich einmal vertikal durchs Haus zieht: „Subkultur“ im Sinne von lauten Konzerten soll es im Keller geben, „Alltagskultur“ wie Filmvorführungen gibt es im Erdgeschoss und „Hochkultur“ wie Theater, Lesungen oder auch Senioren-Tanztee und Kinderprogramme im ersten Stock. Außerdem wird es Videoleinwände für Fußball-Übertragungen und das gemeinschaftliche Tatort-Erlebnis am Sonntagabend geben – ein Mix, der möglichst unterschiedliche Leute anziehen und Schwellenängste vor den Hochkulturveranstaltungen abbauen soll.
Und der dennoch in Zusammenhang mit der geplanten Gastronomie Kritik hervorruft von der unmittelbar benachbarten Roten Flora: Mit dem Haus 73 „dürfte der Umbau des Schanzenviertels zur Partymeile und zum lukrativen Standort kommerzieller Bar- und Vergnügungslocations einen großen Schritt vorangekommen sein“ schreibt das Plenum der Roten Flora in einem Flyer im Mai. „Einfalls- und wahllos werden Angebote für Kinder, Familien und RentnerInnen als Profil behauptet, als ob irgend jemand ernsthaft glauben würde, dass es im Schulterblatt 73 außer ein paar anfänglichen Alibiveranstaltungen regelmäßig Seniorentanztees, Familienbrunches oder stadtteilorientierte Angebote für Kinder und Jugendliche geben wird.“
„Ein Partyladen“ sagt Geschäftsführer Hocquél, „soll das Haus 73 nicht werden. Wir haben das Ziel, Kultur zu unterstützen. Und wir bekommen keine Subventionen. Die Leute finanzieren unsere Kultur, indem sie unser Bier trinken. Daran finde ich nichts Schlimmes.“ Mit der Roten Flora würde er gerne zusammenarbeiten und plädiert für Geduld, „bis das Programm steht. Dann kann man sehen, ob das Kommerzkultur ist oder nicht.“
Derzeit, sagt Hocquél, gebe es keine Gespräche über das Nachbarschaftsverhältnis. Aber einen „Kulturkrieg in der Schanze“, wie ihn die Hamburger Morgenpost Anfang Juni ausrief, gebe es nicht. „Die Grenze zwischen der Roten Flora und dem Haus 73 ist fiktiv. Wir sind Gäste bei deren Veranstaltungen – und sie vielleicht auch bei uns.“
Kommenden Donnerstag nun beginnt das Theaterfestival „Kaltstart“ (siehe Kasten) und für August ist ein fünftägiges Festival zum Todestag von Rio Reiser geplant, mit Lesungen, Filmen und Konzerten, außerdem soll es im August mit den Keller-Konzerten los gehen. Parallel dazu wird weiter gewerkelt im Haus, voraussichtlich auch über den Termin der offiziellen Eröffnung im Oktober hinaus: Bis die Küche da ist, könne es auch Winter werden, „wir sind da noch nicht sicher“, sagt Volker Meier, Musikwissenschaftstudent, Neugesellschafter und Betreuer der Astra-Stube. Denn „die Küche ist sauteuer. Wir wollen erstmal den Rest kaufen.“ Und was den Kaltstart betrifft, wird der von der Ausstattung her „noch besonders Low-Level“, sagt Hocquél. „Wir wollen ja in die Kultur investieren, was wir mit der Gastronomie erwirtschaften. Aber da ist noch nichts.“