: 80.000 Schuhe
Anhand einer Nummer auf einem weggeworfenen Zettel rekonstruiert sie nach Jahrzehnten ein Leben. Das ist die Aufgabe der Konservatorin von Auschwitz
AUS AUSCHWITZ TOBIAS SCHULZE
Auf ihrem Heimweg kommt die Restauratorin am Krematorium vorbei. Entlang der SS-Werkstätten die Straße runter, dann passiert sie die Wachmänner des Museums, und schon steht sie vor der Gedenkstätte. Wenn der Wind aus Nordwesten weht, bringt er von den Gleisen das Rattern der Züge mit, und Christin Rosse denkt dann oft an die Züge, die neue Häftlinge nach Auschwitz anlieferten.
Als die Soldaten der Roten Armee das Lager am 27. Januar 1945 befreiten, fanden sie nur ein paar Tausend Überlebende. Die meisten dieser Menschen sind inzwischen gestorben; bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Deshalb ist Christin Rosse hier. Wegen der Beweisstücke: 13 Kilometer Zäune, 40 Kilogramm Brillen, 80.000 Schuhe. Die Mitarbeiter der Restaurierungsabteilung sichern die Spuren, die der Holocaust hinterlassen hat.
Im Juli 2010 ist Rosse im zweiten Semester und kommt zum ersten Mal nach Auschwitz. Sie studiert damals an der FH Köln Restaurierung auf Bachelor, Fachgebiet Papier. Jeden Sommer schickt die Hochschule Studenten zum Praktikum in die Gedenkstätte. An Rosses erstem Tag legt ihr die Chefin einen Notizzettel auf den Tisch, so groß wie eine Visitenkarte. Darauf stehen vier Zeilen mit blauem Kugelschreiber, nur teilweise zu entziffern: „Hftl. Nr. XXXXX hat 1 T. … 7.XII.43“. Die Praktikantin radiert erst den Dreck weg, dann analysiert sie die Tinte, badet alles in Benzin und leimt schließlich das Papier nach, damit es stabil bleibt. Zwei Wochen lang arbeitet sie an dem Zettel und blickt dabei auf die Notizen. Nach ein paar Tagen beginnt sie nachzuforschen. Sie will herausfinden, zu welchem Häftling die fünf Ziffern gehörten.
Loch mit braunem Rand
„Die Deutschen haben den Menschen alles genommen: ihre Vergangenheit, ihren Namen, ihre Identität. Ich versuche, das wieder rückgängig zu machen“, sagt sie. Bevor die Nazis aus Auschwitz abrückten, hatten sie so viele Unterlagen wie möglich vernichtet. Im ganzen Lager brannten Papierhaufen. Die Rote Armee war jedoch schneller als das Feuer, und die Deutschen mussten Tausende Dokumente zurücklassen. Diese lagern heute im Archiv des Museums. Die Ordner füllen 250 Regalmeter, darin befinden sich auch Urkunden aus sowjetischen Archiven oder Häftlingsbriefe, die die Adressaten der Gedenkstätte überlassen haben.
In der Restaurierungswerkstatt bearbeiten vier Papierspezialisten Seite für Seite. Sie scannen die Dokumente ein, entfernen Schimmel und verstärken brüchige Blätter.
Rosses Notizzettel stammt nicht aus dem Archiv, ein Kollege fand ihn beim Reinigen eines Schuhhaufens. Links unter der Häftlingsnummer klafft ein Loch mit braunem Rand. Vielleicht lag der Zettel jahrzehntelang an einer Schuhöse und setzte dort Rost an, vielleicht war er aber auch schon 1945 beschädigt. Restauratoren beseitigen solche Risse normalerweise. An der Hochschule bearbeitete Rosse einmal an einer Urkunde von Papst Innozenz II., zwölftes Jahrhundert. Ihr Auftrag: Das Pergamentpapier sollte wieder aussehen wie neu. In Auschwitz dagegen soll alles aussehen wie am Tag der Befreiung. Ein Mittel gegen Holocaustleugner. Niemand soll behaupten können, die Dokumente seien gefälscht.
Das Archiv dient aber nicht nur als Asservatenkammer, sondern auch als Datenbank. In den Regalen lagern die Karten der Häftlingskartei mit Zehntausenden Namen und den dazugehörigen Nummern. Hier beginnt Rosse zu recherchieren, und hier bekommt der Häftling mit den fünf Ziffern seinen Namen zurück: Er hieß Rudolf K. und war jüdischer Schneider aus Antwerpen. Sie besteht darauf, dass auch er ein Recht auf Datenschutz habe. Sein Name soll nicht in der Zeitung stehen. Rosse forscht weiter, schreibt Archive in ganz Europa an und hat schnell einen knappen Lebenslauf zusammen:
– 1905 Geburt in Tschechien
– 1928 Auswanderung nach Belgien
– 1939 Geburt der Tochter
Im Herbst 1943 deportierten die Nazis K., seine Frau und das Kind nach Auschwitz. Er blieb dort bis Januar 1945, kurz vor der Befreiung.
In der ehemaligen Lagerkommandantur befinden sich heute Gästezimmer. Rosse wohnt dort, wenn sie in Auschwitz ist. In einer Nacht im Sommer 2010 liegt sie lange wach und schaut aus dem Fenster auf Block 1. Ein Steingebäude, direkt gegenüber. Bis Kriegsende befand sich darin die Lagerschneiderei, und Rosse stellt sich in dieser Nacht vor, wie es vor knapp siebzig Jahren gewesen sein könnte: Der Schneider K. sitzt in Block 1, muss gestreifte Uniformen nähen und denkt an seine Familie, die die Deutschen von der Rampe wohl direkt ins Gas geschickt haben. Der Notizzettel: eine Stoffbestellung?
Rosse mag ihren Job, trotz allem, er sei schließlich wichtig. Und sie mag Oswiecim. Die Deutschen benannten die polnische Kleinstadt in Auschwitz um, nachdem die Wehrmacht einmarschiert war. Rosse kennt den Ort inzwischen gut, sogar den Grundriss mancher Wohnungen. Die Baupläne sind Teil des Archivs. Die Studentin hat sie Anfang 2013 restauriert, während ihres dritten Praktikums in der Gedenkstätte. Rosse ist inzwischen für zwölf Monate als Mutterschaftsvertretung angestellt. Ihre Masterarbeit in Köln muss warten.
Standesamt Auschwitz
Zurzeit befreit sie die Sterbebücher von Schimmel. Im Standesamt Auschwitz stellten die Deutschen vielen ihrer Opfer Sterbeurkunden aus. Adresse, Geburtsdatum, Todestag, Todesursache – Letzteres meist frei erfunden. Laut den Bescheinigungen starben in Auschwitz Achtjährige an Altersschwäche. Im Januar 2013 begannen die Restauratoren mit der Arbeit an den gebunden Urkunden. Mittlerweile sind sie bei den Toten von Oktober 1943 angekommen. Einige Bände der Sterbebücher sind verschollen, dem Museum liegen 48 Exemplare mit je 1.500 Seiten vor. „Massenrestaurierung“, sagt Rosse. Seite für Seite das gleiche Formular, nur die Namen ändern sich. Wenn ein Häftling aus Köln stammte, bleibt Rosses Blick kurz an der Adresse hängen. Aber für Nachforschungen hat sie bei knapp 70.000 Einträgen keine Zeit.
Der Schneider K. ist in den Sterbebüchern nicht verzeichnet. Als im Osten die Rote Armee vorrückte, trieben die Nazis Zehntausende Häftlinge Richtung Westen. Am 22. Januar 1945 kam K. im KZ Buchenwald an, seine Einlieferung musste er per Unterschrift bestätigen. Auf einer Transportliste vom 13. März ist sein Name dann zum letzten Mal verzeichnet. Ziel: das KZ Bergen-Belsen. Dort verliert sich seine Spur. Die Briten führten eine Liste tschechischer KZ-Insassen, die in den Wochen nach der Befreiung an Krankheiten zugrunde gingen. Darauf ist eine Person namens K. notiert, gestorben am 18. Mai 1945. In der Spalte für den Vornamen steht aber nur ein Fragezeichen. Ob Rudolf K. aus Antwerpen den Holocaust überlebt hat, ist ungewiss. „Das tut schon weh“, sagt Rosse.
Die Spuren eines Völkermords zu erhalten, kostet viel Geld, und die Gedenkstätte hat zu wenig. Mit dem Papier ist es ja nicht getan. Am aufwendigsten ist die Arbeit an den Häftlingsbaracken. Viele von ihnen sind marode und müssten dringend restauriert werden. Eine polnische Stiftung will 120 Millionen Euro sammeln und mit den Zinsen den Erhalt des Lagers finanzieren. Billiger wäre es, nur eine Baracke zu erhalten, alle Dokumente einzuscannen und den Rest des Lagers verfallen zu lassen. Aber davon hält Rosse nichts. „Stell dir vor, deine Großmutter wäre gestorben und alle Erinnerungsstücke würden vernichtet“, sagt sie. „Nicht gut, oder?“
Ihre Suche nach K. endet im November 2011. Das Praktikum ist längst vorbei, und sie ist zurück in Köln, als sie eine E-Mail aus Belgien bekommt. Aus der Gedenkstätte des Durchgangslagers Mechelen, in dem K. zuerst interniert war. Rosse hatte auch dort um Informationen über den Schneider gebeten, aber mit dieser Antwort rechnete sie nicht. Als sie die E-Mail öffnet, schaut ihr vom Bildschirm ein Mann Anfang 30 entgegen. Ein wenig ähnelt er ihrem Bruder, denkt sich Rosse, auch wenn das Bild vor dem Krieg aufgenommen wurde. K. ist gut gekleidet. Er trägt Anzug und Krawatte, dazu ein Hemd mit feinen Streifen. Das Haar ist akkurat geschnitten, an der Stirn bildet sich eine Glatze. Der Kopf ist rund, der Blick ruhig und souverän.
Das ist mit dem Begriff Würde also gemeint: Aus einer Nummer auf einem weggeworfenen Zettel nach Jahrzehnten wieder ein Leben zu rekonstruieren. Mit einem Namen, einer Geschichte und einem Gesicht.
In Auschwitz starben mehr als eine Million Menschen, und viele werden ihre Namen nie zurückbekommen. Die meisten Opfer kamen aus den Zügen direkt ins Gas, sie erhielten nicht einmal eine Nummer. „Von ihnen ist nichts geblieben. Kein Grabstein, kein Foto, kein Tagebuch. Höchstens irgendein anonymer Gegenstand“, sagt Rosse.
Manchmal muss sie beim Reinigen der Schuhe aushelfen. An einem Tag im Dezember staubt sie zwei Lederschuhe ab, maximal Größe 25. Die Schnürsenkel sind miteinander verknotet, und die Restauratorin stellt sich vor, wie es gewesen sein muss: Eine Mutter und ihr Kind sitzen nach Tagen im Viehwaggon vor der Gaskammer. Ihnen wird gesagt, sie müssten ihre Kleidung nach dem Duschen wiederfinden. Die Mutter ist eine ordentliche Frau. Sie zieht dem Kind also die Schuhe aus, knüpft einen Knoten und wird ihn nie wieder öffnen.
„Wir müssen solche Objekte erhalten“, sagt Christin Rosse und zeigt auf die Schuhe. „Damit nie wieder eine Schoah geschehen kann.“