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Archiv-Artikel

Gegen Grenzüberschreitungen

PRÄVENTION „Hier endet das Spiel!“, heißt es aktuell auf Plakaten des Berliner Fußball-Verbands. Mit der Posterkampagne will man die Öffentlichkeit für ein Thema sensibilisieren, das eben auch in den Sportvereinen vorkommen kann: sexueller Missbrauch von Kindern

Hier hilft man

■ Der Berliner Fußball-Verband hat eine Online-Beratungsstelle (Anonymes Postfach) eingerichtet, an die man sich bei persönlichen oder sozialen Problemen im Fußballklub melden kann. berliner-fussball.de/soziales/anonymes-postfach

■ Der Landessportbund bietet Missbrauchsprävention und Fortbildung für Vereine an. Kontakt über Iris Jensen: i.jensen@lsb-berlin.org. Web: kinderschutz-im-sport-berlin.de

■ Die Kinderschutzkoordinatoren der Bezirke findet man im Netz unter berlin.de/sen/gesundheit/kindergesundheit. (jut)

VON JENS UTHOFF

Es gab da diesen Trainer, der sich mit drei Jungs in der Umkleidekabine eingeschlossen hatte und Nacktaufnahmen von ihnen machen wollte. Oder der Übungsleiter, der vorgab, einem Jungen wegen einer Verletzung die Leiste einzucremen, aber den Penis ebenfalls einrieb. Und genauso gab es den Betreuer, der seine jungen Spieler zu sich nach Hause einlud und Pornos mit ihnen guckte. „Einen klassischen Fall gibt es nicht, in dem Bereich ist alles möglich“, sagt Iris Jensen, Kinderschutzbeauftragte des Landessportbunds Berlin (LSB), zu diesen Fällen des sexuellen Missbrauchs in Berliner Sportvereinen aus der jüngeren Vergangenheit.

Es sind viele Fälle, die es im Berliner Sport gibt. Wie viele genau, das weiß man nicht. Im Jahr 2008 aber erfuhr man beim Berliner Fußball-Verband (BFV) vonseiten der Polizei, dass etwa ein Fall pro Monat im Berliner Fußball angezeigt wird. Seither arbeitet der BFV an Lösungsstrategien. Beratungsstellen wurden eingerichtet, Öffentlichkeit soll hergestellt werden.

Dazu gehört auch eine nun ins Leben gerufene Plakatkampagne. „Hier endet das Spiel“, heißt sie, die Poster werden an allen Sportanlagen der Bezirke und in Schulen ausgehängt. Das Motiv des Plakats zeigt Kinderbeine mit kurzen Hosen und Stutzen. Der bis zum Knie reichende Stutzen geht grafisch über in eine Hand, die unter die Hose des Spielers/der Spielerin greift. „Wir wollen für das Thema sensibilisieren, wir wollen es in die Köpfe kriegen“, sagt Gerd Liesegang, Vizepräsident des BFV. „Und wir wollen die Kinder dazu bewegen, dass sie sofort sagen, wenn ihnen zum Beispiel bei einer Berührung unwohl ist.“

Bereits im Mai 2010 richtete der BFV einen Appell an alle Vereine, das erweiterte polizeiliche Führungszeugnis bei der Einstellung von Jugendtrainern zu verlangen – verpflichten kann er sie nicht. Ebenso gründete der Verband online ein anonymes Postfach, über das sich Spieler oder Spielerinnen bei persönlichen Problemen im Verein Rat holen können, etwa auch homosexuelle Kicker.

Fortbildungen, Seminare

„Das Wichtigste ist, dass sich die Vereine generell der Thematik stellen und realisieren, dass der Zugriff auf Kinder in den Klubs relativ leicht ist“, sagt Iris Jensen. Sie ist im LSB auch für die Fortbildungen zum Thema Missbrauch zuständig. Sie definiert sexuellen Missbrauch dabei so, dass er alle ungewollten, sexuell motivierten Grenzüberschreitungen am Körper einer Person bezeichnet. Jensen bietet auch den Fußballvereinen Fortbildungen und Seminare an – für die Klubs ist dies kostenfrei. Sie coacht dabei Vereinsangehörige, Trainer, Betreuer und Funktionäre.

Der Darstellung, dass die Vereine sich bei diesem Thema sperren würden, kann Jensen nicht zustimmen: „Die Vereine nehmen unsere Angebote wahr.“ Sie berichtet von 37 Veranstaltungen in Berlin im vergangenen Jahr. Man wolle mit den Vereinen auf Augenhöhe sprechen, „sie nicht von oben herab ansprechen“. Die Klubs betrieben täglich so viel sinnvolle soziale Arbeit mit den Kindern, so Jensen.

Der Eindruck, dass Sportvereine sich dem Thema nicht annähmen, war nach einer bundesweiten Umfrage des Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, entstanden. Von 12.000 angeschriebenen Vereinen hatten nur 650 an der Erhebung teilgenommen.

Ähnlich wie man sich dem Thema Homophobie im Fußball langsam geöffnet hat, soll die Plakataktion ein weiterer Schritt sein, in die Öffentlichkeit. Da die aktuelle Kampagne vor allem auf die kleineren Kinder abzielt, sind für den BFV weitere Aktionen für den älteren Jugendbereich denkbar. An die Verantwortung der Vereine könne man zunächst nur appellieren. „Empfehlenswert ist die Schaffung von Kinderschutzbeauftragten in jedem Verein, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet“, sagt Andreas Statzkowski (CDU), zuständiger Staatssekretär des Senatsressorts für Inneres und Sport.

In Berlin wurden 2012 – im Jahr der letzten vorliegenden Statistik – 730 Fälle von sexuellem Missbrauch zur Anzeige gebracht. Fachstellen für Missbrauch rechnen bei dieser Art von Sexualdelikten mit einer Dunkelziffer, die bis zu zwanzig Mal so hoch ist. Jeder neunte bis zehnte Junge, jedes vierte bis fünfte Mädchen habe etwa Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch.

„Gesellschaftlich ist viel versäumt worden, auch im Sport“

IRIS JENSEN, LANDESSPORTBUND BERLIN

Genaue Zahlen zu Sportvereinen gibt es nicht. Der LSB geht davon aus, dass vier bis fünf Prozent aller Fälle sich im Sport zutragen. Das erscheint noch eher niedrig gegriffen, wenn man davon ausgeht, dass ein großer Anteil der Kinder und Jugendlichen in einem Sportverein ist (über 50 Prozent aller Kinder in Deutschland sind in einem Verein, bei den zwei- bis zwölfjährigen Kindern sind es 71 Prozent).

„Gesellschaftlich ist extrem viel versäumt worden, das betrifft nicht nur, aber auch den Sport“, sagt Jensen. Menschen, die einen sexuellen Übergriff beobachten, rät sie, Ruhe zu bewahren und sich Hilfe bei den Beratungsstellen (siehe Kasten) zu holen. „Man ist da emotional eingebunden und kann oft nicht glauben, was man sieht. Ich rate dazu, Fakten von Emotionen zu trennen.“ Seit 2009 geht der LSB das Thema offensiv an. Nachdem im Jahr 2010 zahlreiche Missbrauchsfälle, etwa am Berliner Canisius-Kolleg, bekannt wurden, gibt es seit 2011 auch einen umfangreichen Leitfaden des LSB zum Kinderschutz im Sport.

In der aktuellen Kampagne geht es vor allem darum, Kinder stark zu machen. Starke Kinder, so Jensen, seien ein wichtiger Bestandteil der Prävention, da sie nicht so leicht zum Opfer von Missbrauch würden. Es geht aber auch darum, die Eltern auf ihre Verantwortung aufmerksam zu machen. „Die Eltern sind in der Pflicht, zur Polizei zu gehen, wenn etwas passiert ist“, sagt BFV-Vize Liesegang. Er weist auch darauf hin, dass der BFV die Täter nur aus dem Verkehr ziehen kann, wenn sie verurteilt sind.

Hertha und Union dabei

Auch Hertha und Union unterstützen unter anderem die Plakataktion, bald sollen zudem Banner an Stadien und Sportplätzen angebracht werden. Man muss im Übrigen davon ausgehen, dass der prozentuale Anteil der Betroffenen im Leistungssport noch höher ist. Eine britische Studie von 2011 fand heraus, dass jede dritte Athletin im englischen Leistungssport Formen sexueller Belästigung erfahren hat. Eine norwegische Studie bestätigte dies. Je größer das Abhängigkeitsverhältnis, desto höher auch die Dunkelziffer, desto einfacher der Missbrauch. Das Schaffen von Öffentlichkeit ist immerhin ein Anfang.