: Sächsisches Kunstwunder
ALTE TRADITIONSLINIEN Die Chemnitzer Sammlungen behaupten ihren Platz trotz der harten Konkurrenz von Dresden und Leipzig – jetzt mit der Wiedereröffnung des König-Albert-Museums, das nun mit zwei neuen Abteilungen für die Dauerausstellung glänzen kann
VON ROBERT SCHRÖPFER
Unter mangelndem Selbstbewusstsein leidet Ingrid Mössinger nicht. „In dieser Stadt ist das Regionale international“, erklärt die Chefin der Kunstsammlungen Chemnitz und spaßt: „Die Dresdner haben ja alles nur importiert und zusammengekauft.“ Denn einfach hat es Chemnitz, das frühere Karl-Marx-Stadt und seit jeher industriell geprägte „sächsische Manchester“, in der harten Städtekonkurrenz mit Leipzig und vor allem der an Sammlungen überreichen Landeshauptstadt keineswegs. Auch wenn Moderne-Vorläufer Henry van de Velde für Chemnitzer Fabrikanten Villen und Interieurs entwarf, auch wenn mit Max Pechstein, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff drei Expressionisten in der Chemnitzer Gegend aufgewachsen sind, bevor sie in Dresden die Künstlergruppe „Die Brücke“ gründeten, gilt die 250.000-Einwohner-Stadt noch immer als Aschenputtel im ungleichen „Sachsendreieck“.
Umso erstaunlicher ist, wie es Mössinger gelingt, mit Beharrlichkeit und guten Kontakten an die alten Traditionslinien, auch die der bürgerstolzen Repräsentation, des Schenkens und Stiftens anzuknüpfen. Seitdem die Schwäbin 1996 die Kunstsammlungen übernahm, wurde nicht nur die von van de Velde erbaute Villa Esche von der Stadt saniert und deren Inventar zurückgekauft. Sammler, Stifter und Leihgeber aus dem gesamten Bundesgebiet liefern freudig ihre Bilder, ja ganze Sammlungen in Chemnitz ab. Insgesamt 16,7 Millionen Euro, so hat Bernhard Freiherr von Loeffelholz, Vorstandsmitglied der Jürgen-Ponto-Stiftung, ausgerechnet, habe sie zusätzlich zu den Betriebsmitteln der Stadt an privaten Spenden und öffentlichen Fördermitteln an Land gezogen. Ihren bislang größten Coup, die Eröffnung des Museums Gunzenhauser im Jahr 2007 mit Bildern des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, noch gar nicht mit eingerechnet.
Und wenn die Kunstsammlungen Chemnitz jetzt nach zwanzig Jahren Umbauzeit ihren Hauptsitz im König-Albert-Museum erstmals komplett als reine Kunstausstellung öffnen, dann ist das ebenso als ein persönlicher Erfolg der Chefin zu verstehen, die offenbar auch im Rathaus über ein gutes Standing verfügt. Immerhin 22 Millionen Euro wurden insgesamt verbaut, die Ausstellungsfläche nach dem Auszug des Naturkundemuseums und der Theaterschneiderei auf 2.700 Quadratmeter nahezu verdoppelt. Mössinger erklärt die Strategie ihres Coups: „Ich wollte dieses Museum mit Bildern sprengen, damit ich neue Räume bekomme.“
Dabei ging es diesmal nicht um eine komplette Neugestaltung, wie sie das Berliner Büro Volker Staab noch beim Museum Gunzenhauser, einem Bankgebäude der 1920er-Jahre mit einer steil aufsteigenden, die Etagendecken durchschießenden Treppe, realisierte. Die am König-Albert-Museum beteiligten Dresdner Büros Walter Köckeritz, Gerald Staib mit Günter Behnisch und Lür Meyer-Bassin sorgten bei laufendem Museumsbetrieb für eine behutsame Renovierung des 1909 erbauten dreigeschossigen Neorenaissance-Riegels am Chemnitzer Theaterplatz. Der Eingangsbereich, ein Durchgang, in dem einst der Wind pfiff und die Tauben flatterten, wurde mit einer Glasfront versehen, Kellerdepots und ein Aufzug wurden eingebaut. Wo bis vor wenigen Jahren noch Kostüme genäht und versteinerte Insekten hinter Glas gehalten wurden, entstanden neben einer Kunstbibliothek und Werkstätten zwei neue Abteilungen der Dauerausstellung.
Im Souterrain und im ersten Stock werden nun wieder Skulpturen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und die Malerei der Romantik gezeigt. Führt unten die Chronologie von kleinen Arbeiten Honoré Daumiers und Auguste Rodins sowie des Dresdners Ernst Rietschel hin zu Plastiken der Abstraktion von Hermann Glöckner, Carsten Nicolai und Tony Cragg, dominieren oben vor glutroter Wand vor allem Gemälde Dresdner Provenienz: Landschaften, Stadtansichten, Porträts und religiöse Szenen von Carl Gustav Carus, Ernst Ferdinand Oehme, Ludwig Richter und Julius Schnorr von Carolsfeld. Steht unten „Der Denkende“ von Wilhelm Lehmbruck, 1937 von den Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ aus dem Museum entfernt und 1996 mithilfe zahlreicher Stiftungen wieder erworben, buchstäblich im Zentrum der Präsentation, ist es oben „Das Segelschiff“ von Caspar David Friedrich, das hier einen frühen Aufbruch in die Moderne ankündigt.
Zusammen mit der Sammlung genuin westdeutscher Kunst des Ehepaars Flügge und einer in den neu eröffneten Sonderausstellungsräumen gezeigten Dauerleihgabe des verstorbenen Sammlers Claus Hüppe mit Werken der klassischen Moderne bereichern und ergänzen die neuen Räume das Zentrum des Hauses: die für die Stadt goldene Epoche am Beginn des 20. Jahrhunderts und die stattliche Sammlung von Bildern von Robert Sterl und Max Liebermann, Lovis Corinth und Oskar Zwintscher über Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner und Otto Dix bis zu Wolfgang Mattheuer und Georg Baselitz. Chemnitz, das Aschenputtel des Ostens, scheint auf dem besten Weg, zumindest mit der Kunst der Moderne aus dem Schatten der übermächtigen Nachbarin Dresden herauszutreten.
■ Bis 26. 9. Wolfgang Mattheuer, Zeichnungen, Gemälde, Grafik