: „Momente der Wut sind wichtig“
STIMMEN Hochgelobt als Theater der Zukunft und kritisiert als Migrantenstadel wird das Maxim Gorki Theater in Berlin, seit Jens Hillje und Shermin Langhoff die Leitung übernahmen. Ein Gespräch über die Rezeption
■ Jahrgang 1968, leitet seit der Spielzeit 2013/2014 gemeinsam mit Shermin Langhoff das Gorki Theater. Im Jahr 2010 erarbeitete er zusammen mit Nurkan Erpulat am Ballhaus Naunynstraße das Stück „Verrücktes Blut“, das zum Berliner Theatertreffen eingeladen und von „Theater heute“ zum Stück des Jahres gewählt wurde. Von 1999 bis 2009 war Hillje Mitglied der Künstlerischen Leitung und Chefdramaturg der Berliner Schaubühne. Zuvor hatte er gemeinsam mit Thomas Ostermeier die Baracke des Deutschen Theaters gegründet, die sich zu einer der erfolgreichsten jungen Bühnen Deutschlands entwickelte.
INTERVIEW BARBARA BEHRENDT
taz: Die ersten drei Monate der Spielzeit sind fast um, acht Premieren liegen hinter Ihnen, zuletzt hat Nurkan Erpulat Gorkis „Kinder der Sonne“ inszeniert. Sie sind angetreten, eine „Öffnung hin zur Stadtgesellschaft“ zu erreichen. Ist Ihnen das gelungen?
Jens Hillje: Diese Öffnung bezog sich zunächst auf die Reflexionen von Realität, die wir auf der Bühne verhandeln wollen. Da stehen wir ja noch am Anfang. Darüber hinaus hat sich aber auch ein anderes Publikum hier versammelt. Alt, jung und wild gemischt in Haarfarben und Haartrachten. Ich glaube, dass sich da etwas von der Heterogenität der Stadt im Publikum wiederfindet.
Ich habe hauptsächlich junge Zuschauer gesehen. Soll sich auch der 50-jährige Berliner hier wiederfinden?
Unbedingt! Es geht nicht darum, dass jetzt nur noch „die Anderen“ im Publikum sitzen. Ich fand es immer eine Errungenschaft am Ballhaus Naunynstraße, dass die Berliner aus Wilmersdorf, aber auch aus Marzahn kommen. Ich freue mich, dass wir viele ältere Zuschauer haben, die zum Teil sehr begeistert sind.
Eröffnet haben Sie mit Tschechows „Kirschgarten“ in der Regie von Nurkan Erpulat. Der Abend wurde in der Presse „Migrantenstadel“ genannt und „Debattenillustrationsveranstaltung“. Das Stück werde missbraucht, um Erpulats Thesen von einer postmigrantischen Gesellschaft zu untermauern. Haben Sie bewusst einen solchen Agitprop-Holzhammer an den Beginn gesetzt?
Ich bin mit dieser Setzung und dem Abend sehr zufrieden. Eine der größten Überraschungen für mich ist, wie inhaltlich die Presse sich mit uns auseinandersetzt. Die Zeit lobt Lopachins Monolog als großen Theatermoment und der Spiegel zählt den „Kirschgarten“ zu den wichtigsten Klassikerinszenierungen der Saison. Zwei Punkte haben eine heftige Reaktion in der Kritik ausgelöst: der Monolog von Lopachin und der von Glenn in „Small Town Boy“. Beides Momente, die ästhetisch kompliziert und politisch sehr aggressiv sind. Ausdruck von Wut, gerichtet von einer Minderheit an eine Mehrheit. Solche Momente sind wichtig. Dass sie in zwei von acht Premieren vorkommen, zeigt aber, dass es uns nicht nur um sie geht. Viele Abende sind sehr liebevoll. Wir haben uns aber mit Nurkan Erpulat, Yael Ronen, Sebastian Nübling und Marianna Salzmann vier Künstler ans Haus geholt, die dafür stehen, Konflikte auch mal schmerzhaft klar zu machen.
Reden wir also von der Premiere, die Sie gerade erwähnten: das Schwulen-Stück „Small Town Boy“ in der Regie von Falk Richter. „Wir haben keine politischen oder ideologischen Gewissheiten“, hat Shermin Langhoff in einem Interview gesagt. Manche Kritiker, die „Small Town Boy“ erlebt haben, den einträchtigen Gesinnungsbeifall des Publikums, den kompletten Konsens zwischen Bühne und Zuschauerraum, selbst bei aggressiven Beschimpfungen politisch Andersdenkender, waren sich da offenkundig nicht so sicher. Sollte das Theater nicht immer auch ein Ort der kritischen Selbstbefragung sein – und nicht nur eine Veranstaltung zur kollektiven Selbstvergewisserung?
Ich teile Ihre Wahrnehmung überhaupt nicht. Ich denke auch nicht, dass Homophobie mit „Andersdenken“ richtig beschrieben ist. Es geht nicht um Andersdenkende, sondern um die Herrschenden. Es geht neben Putin auch um die mächtigsten Menschen in Deutschland. Angela Merkel zum Beispiel, Erika Steinbach, die ihre politische Karriere ganz explizit auf eine Strategie von Homophobie baut und gleichzeitig die Menschenrechtsbeauftragte der herrschenden Partei ist. Das Wort „Gesinnung“ ist außerdem die Abwertung von politischer Haltung. Eigentlich beklagen wir uns unaufhörlich darüber, dass es keine politischen Haltungen mehr gibt bei den Bürgern, und wenn sie bei uns im Publikum sichtbar werden, werfen sich einige Theaterkritiker schützend vor die Mächtigen.
„Der Russe ist einer, der Birken liebt“ in der Regie von Yael Ronen und „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“, inszeniert von Sebastian Nübling, kamen bei der Kritik gut an. Der Spiegel rief inzwischen das Gorki zum „lebendigsten und aufregendsten Theater in Deutschland“ aus. Ein Tiefpunkt aber war nach Ansicht der Medien die „Übergangsgesellschaft“ von Volker Braun, bei der Lukas Langhoff sich mit der legendären Aufführung seines Vaters Thomas Langhoff, 1988 am Gorki, gemessen hat. „An Harakiri erinnernder Heldenmut“, schrieb die Berliner Zeitung. Dass hier der Ehemann der Intendantin die Ouvertüre des neuen Gorki mitgestaltete, nannte die Welt zudem eine Sache „mit einem Geschmäckle“. Gab es innerhalb des Theaters eine nachträgliche Manöverkritik?
Da gibt es absolut nichts zu revidieren. Von „Geschmäckle“ zu sprechen, missachtet die künstlerische Arbeit von Lukas Langhoff. Jenseits dessen, dass er beim Theatertreffen eingeladen war und am Ballhaus Naunynstraße seit Jahren erfolgreiche Projekte macht, ist er ein Regisseur, den ich hier am Haus haben will. Aufgrund dessen, was er künstlerisch unternimmt – das zielt auch manchmal ins Populäre, was ich sehr schätze. Die Auseinandersetzung mit seinem Vater ist auch eine Auseinandersetzung mit der DDR und mit dem, was der Mythos Theater ist. Deswegen ist das Projekt absolut richtig gesetzt. Das war natürlich konträr zu den Erwartungen vieler Kritiker. Die Vorstellungen sind ausverkauft. Das Publikum zeigt Vergnügen.
In der Aufführung, die ich gesehen habe, wurden die Schauspieler ausgebuht.
Der Abend polarisiert, weil er einen veralteten Glauben ans Theater verweigert. Er ist eine Art Geisteraustreibung.
Ihr in Deutschland einzigartig multikulturelles Ensemble besteht aus 17 Schauspielern. Die waren zuletzt am Ballhaus Naunynstraße engagiert, in Bonn, in Düsseldorf, Bochum oder Chemnitz. Das Ensemble ist offenkundig von recht unterschiedlichen Ästhetiken und Regiestilen geprägt worden. Das fällt in einigen Produktionen sehr auf.
Die Frage nach der Einheitlichkeit der Spielweise ist noch ungelöst. Ist das zeitgemäß? Es ist doch immer ein Endpunkt, wenn alle gleich spielen. Die Unterschiedlichkeit der Schauspieler ist deshalb ein enorm produktives Potential.
Shermin Langhoff sagte, das Ensemble sei nicht nach Migrationshintergründen zusammengestellt worden. Warum haben die meisten Schauspieler dann doch einen Migrationshintergrund?
Unsere Schauspieler sind so wie diese Stadt und die ist mit jedem Jahr mehr eine Ansammlung von sehr unterschiedlichen Minderheiten. Und um von dieser Stadt erzählen zu können, braucht man Menschen, die das erlebt haben und verkörpern können. In der Minderheitserfahrung steckt auch die Fähigkeit, von Konflikten zu erzählen, die mit Identitäten und ihren Zuschreibungen zu tun haben, mit Macht und Ohnmacht. Das wird dann auch universell interessant.
Die meisten Inszenierungen beschäftigen sich mit Identität und Herkunft. Gibt es nicht die Gefahr, dass Sie zu monothematisch werden?
Wir werden unsere thematischen Spielräume ausloten und erweitern. Wir machen in dieser Spielzeit noch „Woyzeck“, wir machen ein großes Projekt über den Ersten Weltkrieg, Patriotismus und Nationalismus.
Die bisherigen Besucherzahlen scheinen das Konzept zu bestätigen: Die Stücke auf der großen Bühne hatten eine Auslastung von 98 Prozent, „Small Town Boy“ sogar 100 Prozent nach den ersten Aufführungen. Sind die guten Besucherzahlen dem Eröffnungshype geschuldet oder zeichnet sich da schon ein kontinuierliches Publikumsinteresse ab?
Das Tolle ist, dass wir durch die Anerkennung, die uns entgegengebracht wird, wissen: Es gibt eine Notwendigkeit für dieses Theater. Also können wir uns auch sehr frei und offen mit den extrem gemischten Pressestimmen auseinandersetzen. Ich glaube nicht, dass die guten Zahlen einem Anfangshype geschuldet sind. Der Tag, an dem die Kritiken zu „Small Town Boy“ erschienen sind, die zum Teil negativ waren, wurden so viele Karten an einem Tag verkauft wie seit Jahren nicht. Das Publikum merkt: Hier wird etwas verhandelt, was es interessiert.