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Archiv-Artikel

Wie seltsame Tiere

Schuld und Sühne in Mexiko-Stadt: Der Film „Batalla en el cielo“ von Carlos Reygadas schließt sexuelle und religiöse Hingabe kurz. Laiendarsteller suchen Erlösung – mit ganz großer Geste

von CRISTINA NORD

Mit einem Blowjob geht es los. Noch vor dem Vorspann sieht man die Nahaufnahme eines Männergesichts vor einem diffusen, grau-blauen Hintergrund. Langsam fährt die Kamera am massigen Körper des Mannes herab. Vor dem Unterleib macht sich ein Kopf zu schaffen, man sieht Dreadlocks, in die Muscheln, Bänder und Steinchen eingewoben sind wie bei einem Medusenhaupt. Die Kamera fährt rechts daran vorbei. Kurz bevor man den Schwanz sehen könnte, springt sie zur Hüfte des Mannes. Man denkt: Der schamhafte Schnitt will der Szene das Explizite nehmen, indem er den erigierten Schwanz verschluckt. Doch die Kamera fährt zurück, und jetzt sieht man aus der Nähe, wie der Mund der Frau den Schwanz verschluckt.

„Batalla en el cielo“ (der hiesige Verleihtitel ist „Battle in Heaven“) ist der zweite Spielfilm des 1971 in Mexiko-Stadt geborenen Regisseurs Carlos Reygadas. Schon das Debüt, „Japón“ (2002), scheute vor einer außergewöhnlichen Sexszene nicht zurück. Damals war es ein etwa 50 Jahre alter, lebensmüder Mann, der in den Armen einer 80-jährigen Campesina nach Erlösung suchte, ohne dass die Kamera von der Bettstatt der beiden hätte wegschwenken wollen. Die beiden Darsteller waren Laien, genauso wie Marcos (Marcos Hernández) und Ana (Anapola Mushkadiz) im neuen Film. Motor der Handlung ist diesmal nicht der Lebensüberdruss des Protagonisten, sondern eine Schuld. Marcos hat gemeinsam mit seiner namenlos bleibenden, gleichfalls sehr dicken Frau (Berta Ruiz) ein Kind entführt, das dann bei einem Unfall umgekommen ist – mehr erfährt man nicht, Reygadas kümmert sich nicht groß um die kriminalistischen Voraussetzungen des Filmes, er verbannt sie in knappe Dialoge zwischen Marcos und seiner Frau. Dadurch gewinnt Marcos’ Schuld einen allgemeinen, existenziellen Zug – als ginge es nicht um eine konkrete Verfehlung, sondern um eine mit dem menschlichen Dasein untrennbar verbundene Schuld.

Dass es dem Regisseur dabei um eine religiöse Aufladung zu tun ist, ist nicht zu übersehen. Marcos sucht Erlösung von seiner Tat. Zuerst in den Armen Anas, dann in der freien Natur, am Gipfelkreuz eines Berges, schließlich auf Knien rutschend, in einer Prozession zu Ehren der Jungfrau von Guadalupe. „Batalla en el cielo“ schließt den expliziten Sex mit der religiösen Hingabe, die sexuelle mit der religiösen Erregung kurz. Das ist radikal, keine Frage, zugleich wirkt es aber wie eine Geste aus einer anderen Zeit. Reygadas beharrt auf einer Transgression, die jenseits eines stockkatholischen Kontexts überkommen anmutet. Was sagt ein Schwenk, der von nackten, postkoitalen Leibern auf ein Jesusbild an der Schlafzimmerwand führt? Geht es dabei um die Erfahrung des Göttlichen, von Transzendenz im Sex? Und wenn das so ist: Läuft Reygadas nicht Gefahr, durch die provokante Geste die subtileren Konnotationen auszustreichen?

Der Hang zur großen Geste findet sich in einer mise en scène fortgeführt, die kein Mittel der Emphase auslässt. „Batalla en el cielo“ betreibt ein aufwändiges Spiel von Musik und Geräuschen, deren Quellen mal onscreen, mal offscreen liegen. Zum Blowjob gibt es Geigen, an einer Tankstelle erklingt Johann Sebastian Bach, manche Geräusche werden hervorgehoben – das Klingeln von Weckern oder das Klacken von Absätzen, andere verschluckt der Film: Am Ende sieht man Kirchenglocken in Bewegung, ohne dass man das Geläut hörte.

Die Laiendarsteller agieren unbeholfen, ihre Körper sind wuchtige Berge, aus einem Feinripphemd trieft Schweiß, eine Jeans wird eingenässt. Einmal unternimmt Marcos mit seiner Frau einen Ausflug aufs Land. Reygadas sperrt die beiden in einer halbnahen Einstellung wie in einem Käfig ein. Sie bereden ihre größte Sorge: das tote Kind. Dabei wirken sie, als lägen ihnen die Sätze wie Steine im Mund. Als der junge Regisseur seinen Film im Mai 2005 im Wettbewerb von Cannes präsentierte, sagte er: „Ich mag die Natürlichkeit der Laiendarsteller, ich möchte nicht, dass die Schauspieltechnik dazwischenkommt.“

Die Kamera macht in jedem Moment des Filmes auf ihre Existenz aufmerksam – entweder, indem sie auffällig lange still hält, oder indem sie sich in exaltierten, ausgefallenen Bewegungen ergeht. Der Kameramann Diego Martínez Vignatti, der schon „Japón“ mit schleifenförmigen, gewundenen Plansequenzen gestaltete, wählt 360-Grad-Schwenks, lange Fahrten durch U-Bahn-Passagen und raffinierte Wechsel von vertikalen und horizontalen Blickpunkten.

Es ist nicht so, dass diese Anordnung keine Faszination ausübte. Nur greift Reygadas etwas zu offenkundig nach dem Skandal, etwas zu offenkundig nach literarisch-filmischen Vorbildern und Sujets, die heute wie aus der Zeit gefallen scheinen: die Seelenqual, das existenzielle Unbehagen, die Selbstlosigkeit der weiblichen Figur. Auf der Strecke bleiben in diesem Arrangement vor allem die Laiendarsteller, denen der Regisseur so viel zumutet und die er doch mit sich allein lässt. So hat „Batalla en el cielo“ wenig von einer Kunst, die eine Ahnung von Freiheit vermittelt, und mehr von einer Kunst, die sich an der Unfreiheit berauscht.

„Batalla en el cielo“, Regie: Carlos Reygadas. Mit Marcos Hernández, Anapola Mushkadiz u. a., Mexiko/Belgien/ Frankreich/Deutschland 2005, 98 Min.