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Archiv-Artikel

Die Diagnose kommt aus Indien

800.000 Dienstleistungsjobs hat die US-Wirtschaft im vergangenen Jahr in Billigstandorte verlagert. Europas Firmen ziehen beim Offshoring langsam nach

BERLIN taz ■ Indische Radiologen analysieren Röntgenbilder für US-Krankenhäuser, auch die juristische Beratung und die Auswertung von Wirtschaftsdaten kommen von dem anderen Kontinent. 800.000 qualifizierte Jobs wie Programmierer, Buchhalter und Telefon-Maker haben US-Firmen allein im vergangenen Jahr nach Indien verlagert. Deutsche Unternehmen sind hingegen noch zögerlich. Sie kauften hundertmal weniger Arbeitskraft und Know-how als die USA bei ausländischen Dienstleistern ein. Doch das könnte sich nach einer gestern in Berlin vorgestellten Studie von Deutsche Bank Research nun ändern.

Für den Trendwechsel sind die neuen EU-Mitgliedsländer in Osteuropa verantwortlich. Sie können jenseits niedriger Löhne mit Standortvorteilen aufwarten, die deutsche Unternehmen bisher vor der Verlagerung von Dienstleistungen zurückschrecken ließen. Denn noch halten Unterschiede in Mentalität, Kultur, Rechtssystemen und bürokratische Hemmnisse deutsche Unternehmen davon ab, ihre Buchhaltung oder Designabteilung nach Indien auszulagern.

Das grenzüberschreitende Verlagern von Dienstleistungen – so genanntes „Offshoring“ – ist bis heute eine sehr angelsächsische Angelegenheit. „Wir sind später dran als diese Länder, die ihre koloniale Vergangenheit und die Lingua franca Englisch nutzen können“, sagt Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank Gruppe.

Offshoring-Weltmeister sind die USA. Sie investierten 2005 rund 11 Milliarden Dollar in die Verlagerung – das meiste Geld ging nach Indien. Englischsprachige Länder sind auch in Europa Vorreiter. Über 70 Prozent der 2,5 Milliarden Dollar Offshoring-Ausgaben wurden 2005 nach Angaben von Forrester Research in Großbritannien und Irland getätigt. Deutschland, Österreich und die Schweiz kommen gemeinsam gerade mal auf einen Anteil von 9 Prozent.

Trotz der sprachlichen Nähe sagen aber 56 Prozent aller britischen Unternehmen, dass kulturelle Unterschiede eine effiziente Kommunikation mit indischen Auftragsfirmen behindern. Diese Argumente treffen auf Länder wie Tschechien, Polen oder die Slowakei kaum zu.

„Wenn man das Ausbildungsniveau, die Qualität der Institutionen und die Infrastruktur betrachtet, liegen die neuen EU-Länder vor ihren Billigkonkurrenten aus China und Indien“, sagt Thomas Meyer von Deutsche Bank Research. Einige deutsche Firmen nutzen das bereits. Der Logistikkonzern DHL betreibt eines seiner globalen Rechenzentren in Prag, in Bratislava werden die Reisekosten deutscher Firmen abgerechnet.

Damit sparen sie vor allem Geld. Denn die Löhne für Dienstleistungen in den neuen EU-Staaten betragen nach Angaben von Eurostat nur ein Fünftel der Löhne für vergleichbare Tätigkeiten in Deutschland.

Doch die Standortvorteile der neuen EU-Mitglieder könnten schnell dahinschwinden. Denn die Löhne in den neuen Mitgliedsländern steigen mit 7,7 Prozent pro Jahr sehr viel schneller als in Westeuropa, wo sie 2004 im Schnitt um 3,5 Prozent zulegten. „Der Lohnvorteil wird schnell verschwinden, wenn westeuropäische Unternehmen dort im großen Maßstab einsteigen“, prophezeit Walter. Auch seien diese Länder zu klein, um den deutschen Arbeitsmarkt ernsthaft zu gefährden. TARIK AHMIA