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Archiv-Artikel

Flachland-Alm mit Hüttenzauber

AUS NEUSS LUTZ DEBUS

Der Asphalt auf dem Parkplatz klebt vor Hitze. Zwei Gestalten in Winterjacken, gefütterten Hosen, Wollmützen auf dem Kopf und Snowboards unterm Arm trotten lässig vorbei. Warum sie bei solchen Temperaturen in diesen Klamotten herumlaufen? Was sie bei dieser Hitze in eine Skihalle zieht? Antwort einer der beiden: „Ist doch cool!“

Seine Rastalocken hat er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sein Kumpel grinst nur. Wenn das Geld nicht reicht, treffen sich die beiden mit ihren Skateboards bei ihrer Halfpipe in Dortmund. Heute hat das Geld gereicht. Sogar die knapp 100 Kilometer zur Skihalle nach Neuss, direkt an der A 46 Richtung Aachen gelegen, nehmen die jungen Schneefans in Kauf.

22 Euro zahlen die beiden Snowborder. Dafür dürfen sie bis 23 Uhr bleiben. Routiniert tippt der mit den Dreadlocks auf den Touchscreen des Kassenautomaten, der umgehend ein paar Zettel ausspuckt: die Zugangsberechtigung zum Wintermärchen. Beide verschwinden die Treppe hinunter in Richtung Umkleideräume und Kälteschleuse. Umziehen müssen sie sich nicht. Hinter den Glastüren warten minus 4,2 Grad Celsius. Davor herrschen gefühlte 40 Grad plus.

Etwas warm für alpinen Hüttenzauber. Der beginnt unmittelbar hinter dem Eingangsbereich im Erdgeschoss. Hoch oben am Hallenhimmel kleben Sperrholzwölkchen. Glitzernde Lämpchen deuten den ansonsten sternenklaren Gebirgshimmel an. Gleich hinter den mannshohen Steinbrocken aus Beton gibt es etwas zu trinken. Friesisch herbes Pils auf der Hütt‘n? Die topographische Unschärfe ist dem Namensgeber und Sponsor der Skihalle geschuldet. Natürlich, versichert der Mitarbeiter hinter der Theke, gebe es auch Weizenbier. „Und andere Spezialitäten aus den Alpen“. Der Klang seiner Stimme outet ihn als Rheinländer. Für jene, die sich auf Barhockern niederlassen, baumeln Flachbildschirme von der Decke. Ein Video zeigt Skifahrer, die in halsbrecherischem Tempo einen fast senkrechten Hang hinunter rasen.

Gerade noch quoll aus den Lautsprechern verpoppte Oberkrainer Blasmusik. Jetzt aber ist Salsa Trumpf: „Lalala-lalalala Caipirinha!“ Zwei blonde Frauen in kurzen, pastellfarbenen Kleidern stehen, chic aufgebrezelt, am Rande der silbernen Tanzfläche. Die Lichtorgel orgelt. Zum Tanzen ist es den beiden entweder zu heiß oder zu einsam. Sie bewegen nur die Hüften zur Musik. „Wir warten auf unsere Clique“, erklärt eine der beiden. „Später am Abend geht‘s echt ab. Drei Partyzonen gibt‘s hier mit drei verschiedenen Musikstilen. Echter Après-ski eben.“

Dorfdisco wäre eine passendere Umschreibung. Sogar der Eintritt ist frei. Hinter der Doppelverglasung der Panoramafenster liegt unverkennbar Schnee. Skifahrer wedeln dort in weniger als 30 Sekunden den lauen Hang hinunter. Die Piste des Neusser Skigebietes ist 300 Meter lang und 60 Meter breit. Ein Sessellift bringt die Wintersportler zur „Bergstation“ in 110 Metern Höhe. Die Scheinwerfer an der Blechverkleidung des Daches tauchen das leicht neblige Areal in ein unwirkliches, fades Grau. Links von der Piste stehen ein paar krumme Fichten im Schnee. An den Wänden machen bekannte Wintersportorte Werbung für Urlaub in den Alpen.

Erstes Mal auf Brettern

Ganz oben am Hang steht ein junger Mann auf Skiern. Er trägt einen rosa gefärbten Strohhut. „Genial hier. Ich steh‘ das erste Mal auf Brettern und kann sofort losfahren.“ Drei Jungs aus Österreich in Lederhosen sind etwas belustigt. „Die Pisten daheim sind schon etwas länger“, sagt der eine und grinst dabei. Eigentlich sind die Drei für ein Party-Wochenende nach Düsseldorf gekommen. Dass man sich auf so originelle Art erfrischen kann, habe sie schon erstaunt.

An der rechten Seite des Kunsthangs ist eine kurze Piste für Kinder abgetrennt. Eine Familie aus Neuss versucht sich an der schmalen, für Schlitten reservierten Abfahrt. Der Vater ist enttäuscht. Im Internet habe alles viel größer ausgesehen. Aber sein Patenkind, das aus Griechenland zu Besuch ist, hat leuchtende Augen. Der 14-jährige Georgio von der Insel Samos sieht das erste Mal in seinem Leben Schnee. Fasziniert hält der Junge eine Hand voll an sein Gesicht. Die groben Kristalle kratzen auf den Wangen. Sein Patenonkel schwärmt ihm von weichem Pulverschnee vor, von einer Winterlandschaft, die im Licht der Sonne glitzert.

Die Sonne scheint hier drinnen nicht. Draußen hingegen steht sie als glühender Feuerball am Horizont und taucht die Skihalle in sattes Orange. Der schräge Quader aus Stahlträgern, Rohren und Blech steht auf Stelzen und sieht aus wie ein Weltraumbahnhof. Zwischen Parkplatz und Eingang lockt die „Salzburger Alm“. Die Außengastronomie der Skihalle Neuss sieht aus, als hätte man eine überdimensionale Kuckucksuhr in rheinische Kappesfelder gerammt. Brett für Brett wurde die Alm in Österreich abgebaut und nach Neuss transportiert. An groben Holzbänken und -tischen hocken die Besucher der wohl tiefsten Hochalm der Welt vor ihren Bierhumpen. Es riecht nach Schweinshaxen und Rindenmulch.

Tiefste Hochalm der Welt

Uwe ist einer der vielen Kellner, die zwischen den Sitzreihen umher flitzen. Bis vor zwei Jahren war er noch Betreiber einer Pommesbude in einem Vorort von Neuss. Sein kleines Häuschen musste dem Parkplatz der Sparkasse weichen. Es gehe ihm wirklich gut mit seinem neuen Job, versichert er. Nur die Arbeitskleidung sei etwas gewöhnungsbedürftig. Mit einem hilflosen Schmunzeln schaut er an sich herab. Er trägt wie alle hier ein rot-weiß kariertes Hemd und eine krachlederne Kniebundhose mit kunstvollen Stickereien auf dem Hosenstall. Am Gürtel baumelt das Halfter für die digitale Bestellungsspeicherung.

Auf dem Hochstand, der direkt neben der Theke in den wolkenlosen Himmel ragt, sitzen vor ihrem Mischpult die Techniker des lokalen Radiosenders News 89.4. Über ihnen sind die Scheinwerfer für die Außentanzfläche montiert. Unter ihnen, an einem Stehtisch, wird gerade Stefan Warth, Pressereferent der Skihalle interviewt. Ja, auch die Skihalle beteilige sich an dem Oldtimertreffen an einem der nächsten Wochenenden am nahe gelegenen Schloss Dyck, dröhnt es über die Außenlautsprecher. Jedes Wochenende gehen die Lokalfunker im Wintersportgebiet von Neuss auf Sendung. Und diese Sendung wird über alle Skihallenlautsprecher wiedergegeben – eine Hand wäscht die andere. Heute gibt es als Highlight eine Rundfahrt mit einem der antiken Autos zu gewinnen. Die erste Anruferin, die von ihrem Glück erfährt, quietscht vor Freude.

Total ökologisch

Während der nächste Musiktitel läuft, nimmt sich Stefan Warth Zeit für Fragen. Ohne Spickzettel referiert er die technischen Daten. 2,5 Millionen Kilowattstunden werden jedes Jahr für Kühlung und Schneeproduktion verwendet. Das entspreche der Hälfte des Energiebedarfes eines Freibads. Auf die ungläubigen Blicke seines Gegenübers reagierend, ergänzt er, dass die Skihalle ein geschlossenes System sei. Durch die gute Isolierung dringe kaum Kälte nach außen. Ein beheiztes Freibad hingegen verbrauche viel mehr Wärme als die Skihalle Kälte. Als Kühlmittel werde, so Warth, ein ungefährliches Glycol-Wasser-Gemisch benutzt. Und auch der Standort sei nach ökologischen Gesichtspunkten ausgesucht worden. Im Ballungsraum Rhein-Ruhr gelegen, sind die Anfahrtswege für viele Menschen kurz. Landwirtschaftlich nutzbare Fläche wurde beim Bau nicht verbraucht. Die Skihalle steht auf einer rekultivierten Mülldeponie.

Am Nebentisch hat sich ein Pärchen niedergelassen. Sie stammt von hier, er ist aus dem Allgäu zu Besuch. „Er wollte es nicht glauben. Deshalb sind wir hier.“ Die Frau um die Vierzig lacht dabei mit Genugtuung, der Bayer lächelt etwas gequält. „Pseudoalpenländisch“ nennt er die Kulisse aus Hirschgeweihen und Marienstatuen. Ob der Discotrubel denn auch pseudoalpenländisch sei? In Ischgl in Österreich, so gibt die Frau aus Neuss zu bedenken, sei alles doch viel schlimmer. „Da kommt man von der Piste ins Hotel und sieht auf den Tischen die Damen oben ohne tanzen.“ So etwas habe sie in Neuss noch nicht erlebt. Auch der Besucher gibt sich konziliant: „Des passt scho.“ Dabei schaut er über den Jägerzaun der Salzburger Alm zum Gebirgspanorama von Neuss. Eine gerade Linie bildet den Horizont. In der Ferne mühen sich ein paar Windräder ab, machen womöglich aus bewegter Luft Schnee.