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Archiv-Artikel

Sotschi als Ideologie

Andrej Afonin, geboren 1970 in Moskau, ist studierter Philologe, Theaterregisseur und seit mehr als zehn Jahren Leiter des integrativen Theaterstudios KROOG II.

VON ANDREJ AFONIN

Seit Langem hat es in Russland kein derart hochrangiges Ereignis gegeben, das viele Behörden und Menschen zugleich hinter einem gemeinsamen Ziel vereint. Vor dem Hintergrund der Olympiade versuchte die russische Regierung, eine bestimmte nationale Ideologie zu formulieren – die Ideologie einer physisch gesunden Gesellschaft, die noch dazu an den olympischen Werten ausgerichtet ist. Die Idee ist utopisch, populistisch, sie stößt jedoch in bestimmten Teilen der Bevölkerung auf Resonanz. Für diejenigen, die das sportliche Leben nicht sonderlich begeistert, gibt es ein anderes Angebot einer nationalen Ideologie: die Orthodoxie.

Interessant ist, dass beiden Ideologien eine bestimmte körperliche Askese zugrunde liegt. Das Bild des Körpers in der „populären“ Orthodoxie ist mit der Negierung dieses Körpers, der von Sünde befallen ist, verbunden. Der Körperkult im Sport ist mit der Erziehung eines vollkommenen Körpers verbunden bis hin zu dessen Negierung. In beiden Ideologien existiert der Gedanke der Notwendigkeit eines asketischen Kampfes, was im Russland-Kontext der letzten Jahre als Kampf für die russische Staatlichkeit interpretiert wird.

Dies wird noch dadurch verstärkt, dass Sport in Russland nur erfolgreich ist, wenn er mit einer besonderen Anstrengung einhergeht. Russland belegte 2010 bei den Paralympics in Vancouver den Spitzenplatz im Medaillenspiegel. Die russischen Profisportler landeten abgeschlagen auf dem elften Platz.

Überhaupt siegt der Russe meist trotz bestimmter Umstände und nicht dank ihnen. Nur eine starke Hand und ein eiserner Wille führen zum Sieg! In Sotschi müssen die Russen siegen. Wenn nicht, wäre das eine Schande für das Land! Möglicherweise wird genau der Umstand, dass in Sotschi die Natur für die Durchführung olympischer Winterspiele ungeeignet ist, für die russischen Sportler zu jenem motivierenden Impuls, der sie – „nun erst recht“ – den Sieg erstreiten lässt!

Menschen mit Handicap

Der Olympiade gingen Jahre der Vorbereitung voraus, darunter auch eine vier Jahre währende Kulturolympiade in Sotschi. Alle, die sich um ihr Prestige sorgen, wollten von sich reden machen. Es wurde umfangreiche Arbeit geleistet, um das Beste auszuwählen, das es im kulturellen Bereich in Russland gibt.

Im Kontext der olympischen Werte wurden auch die Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen nicht vergessen. Und dabei geht es nicht nur um die Teilnehmer der Paralympics, sondern auch um die Bewegung „integrativer Theater“, die unter anderem durch das Gesamtrussische Festival integrativer Theater (Theater mit Beteiligung behinderter Menschen) „Protheater“ vertreten wird.

So wurde in Sotschi im Rahmen des Theaterjahres der Kulturolympiade ein Stück des Theaterprojektes „Netu slow“ (deutsch sinngemäß: „Ohne Worte“, Anm. d. Übers.) mit gehörlosen Schauspielern aufgeführt. Für die Einwohner von Sotschi war das eine ganz ungewöhnliche Aufführung. Etwas Vergleichbares hatten sie noch nie gesehen. Aber solche Ereignisse gab es in Sotschi wenige und sie werden in der Region kaum etwas an der Haltung gegenüber Menschen mit Handicaps ändern. Bis heute gibt es in Russland keine Rechtsformen für die Existenz solcher Theater.

Ein Vorbild im Bereich des integrativen Theaters ist das Projekt „Entfernte Nähe“, das im Rahmen des Deutschlandjahres in Russland 2012/2013 von einem deutschen und einem russischen Regisseur auf Initiative und mit Unterstützung des Goethe-Instituts Moskau ins Leben gerufen wurde. An diesem Projekt nahmen in Russland erstmals professionelle Schauspieler und Schauspieler mit geistiger Behinderung teil. Das Stück lief ein Jahr lang erfolgreich in einem professionellen staatlichen Theater und wurde sogar für den bedeutendsten Theaterpreis Russlands, die „Goldene Maske“, nominiert.

Anderthalb Jahre lief die Vorbereitung auf eine Teilnahme dieses Stücks am Kulturprogramm der Paralympischen Spiele in Sotschi. Alle Beteiligten, einschließlich der Kulturabteilung des Olympischen Komitees, waren daran interessiert. In der Schlussphase jedoch kam es zu einer Situation, die aufgrund organisatorischer und finanzieller Faktoren die Realisierung des Projektes nicht zuließ. Diese Umstände spiegeln die reale Situation von Menschen mit Behinderung in Russland wider.

Bereicherung, Ausbeutung

Von Anfang an war die Olympiade in Sotschi mit einem Makel behaftet: Es wird viel Geld benötigt bei gleichzeitigem Geldmangel für Soziales und Kultur. Sotschi ist ein Kurort, in dem es weder das erforderliche kulturelle Niveau, das für Veranstaltungen dieser Art Voraussetzung ist, noch die Infrastruktur und die Sportanlagen je gegeben hat.

Allen ist klar, dass dieses Ereignis Mittel ist zur Bereicherung der einen und zur Ausbeutung der anderen. Wenn man die russische Tradition der sogenannten „Kick-back-Schmiergelder“ in Betracht zieht, ist allen klar, dass jemand mit diesem Projekt unheimlich reich geworden ist. Allerdings werden wir niemals erfahren, wer genau.

Die Austragung Olympischer Spiele in einer Region, die traditionell nur vom Tourismus lebt, ist schwer zu bewerten. Können die kulturellen und sozialen Prozesse, die im Kontext der Vorbereitung der Olympiade angestoßen wurden, fortgesetzt werden? Das ist schwer vorstellbar. Diese Prozesse sind künstlich stimuliert und werden ohne immense finanzielle und administrative Unterstützung kaum eine Chance haben sich zu etablieren.

Das Bewusstsein des Menschen ist schwer zu verändern, besonders mit Zwang. Und genau das haben die Spezialabteilungen des Olympischen Komitees versucht. So ging in den letzten vier Jahren die Zahl der kulturellen Produkte, die von den Einwohnern in Sotschi konsumiert werden mussten, weit über das bis dahin für die Stadt übliche Maß hinaus. Die Erfahrung, welche Auswirkungen eine solche kulturelle Intervention hat, steht uns noch bevor.

Russlands Präsident Wladimir Putin strebt immer nach Neuem und Ungewöhnlichem und setzt in den meisten Fällen seine Pläne durch. Die Olympiade wird – wenn sie denn stattfindet und es Schnee und Eis gibt dort, wo der Winter um diese Jahreszeit gewöhnlich auf dem Rückzug ist – ein außergewöhnliches Ereignis sein und die ganze Kraft und Stärke der Staatsmacht dokumentieren und ganz konkret: die Macht des Präsidenten.

Die Olympiade in Sotschi ist eine Art Meilenstein. Doch was kommt danach? Nach dem Aufstieg kommt der Fall – im ökonomischen, sozialen und vor allem im kulturellen Bereich. Es herrscht Angst, dass das Geld, das in Sotschi gestohlen wurde, im Staatshaushalt als Defizit zu Buche schlägt und das Volk der Leidtragende sein wird.

Das sind Spekulationen, aber man bekommt das Vorgefühl eines nahenden Unglücks. Welcher Art? Niemand weiß es. Aber dieses Nichtwissen verschlimmert die Situation. Es könnte sein, dass die nationale Idee in einem Fiasko endet. Das Volk hat die Askese erduldet um einer vermeintlich bedeutsamen Sache willen. Doch die Verheißungen könnten sich nicht erfüllen. Erinnerungen an die sowjetischen Leitlinien für eine lichte Zukunft werden wach, auf die alle vergeblich warten. Offenbar muss hier die orthodoxe Askese auf das Schlachtfeld treten, die unzufriedenen Massen zähmen und die russische Staatlichkeit verteidigen.