Die Welt ist schlecht

Jeder Satz ein Trümmerfeld, jede Heldin eine Trümmerfrau: Marlene Streeruwitz schickt in ihrem Roman „Entfernung“ eine Frau in einen sadistischen Clinch mit sich und der Sprache

VON JÖRG MAGENAU

Letztlich ist alles im Leben eine Frage der richtigen Entfernung. Manche leiden mehr als nötig, weil ihnen das Erlebte so nahe geht, dass sie sich nicht dagegen wehren können. Andere verharren in souveräner Distanz und verpassen dadurch intensivere Gefühlsmomente. Selma, die Hauptfigur in Marlene Streeruwitz’ Roman „Entfernung“, schwankt zwischen beiden Erlebensarten: „Sie kam immer zu nahe. Oder war gleich ganz weit weg. Sie war zu offen. Sie drängte sich auf.“ Ihr Umarmungsbedürfnis ist so groß wie ihre Unberührbarkeitssehnsucht. Weil aber beides zusammen nicht geht, kann sie nur unglücklich sein. Dass sie sich in ihrem Dauerunglück als Opfer empfindet, als weibliches zumal, macht sie zu einer typischen Streeruwitz-Figur. „Ihre Tragödie hatte sie ihr Geschlecht gekostet“, heißt es einmal.

Selmas Geschichte ist rasch erzählt. Der nicht mehr ganz jungen Chefdramaturgin eines Wiener Theaters wurde gekündigt, weil der Intendant mit einer jüngeren Kollegin zusammenarbeiten möchte. Außerdem ist ihre fünfzehn Jahre dauernde Beziehung zerbrochen. Ihr Freund hat ein Doppelleben geführt und seine Geliebte geschwängert. Für Selma, die in gewählter Kinderlosigkeit lebt und eine Abtreibung hinter sich hat, ist das ein doppelter Affront. Gedemütigt sowie arbeits- und perspektivlos flieht sie nach London, um dort – ja was eigentlich: ein neues Leben zu beginnen oder bloß das alte hinter sich zu lassen?

Peinigend minutiös beschreibt Streeruwitz diese Reise: den Aufbruch in Wien, die Fahrt zum Flughafen, das Warten im Transitraum, den Flug, die Landung, die U-Bahn-Fahrt in London, die Ankunft im Hotel, die Wege durch die Stadt, und überall die Begegnungen mit Menschen, Paaren, Passanten: flüchtige Augenblicke in einem endlosen Bewusstseinsstrom. Alles, was ihr widerfährt, bezieht Selma umstandslos auf sich. Wenn ein junger Mann ihr an der U-Bahn-Schranke das Ticket entreißt, hat er sie als Opfer ausgesucht, weil sie als Opfer erkennbar ist. Dieser Status lässt sich in schöner feministischer Berechenbarkeit auf eine Kindheit zurückführen, in der sie vom Vater geschlagen wurde. Körperliches ist ihr programmgemäß zuwider. Und als Österreicherin ist sie zudem noch Teil einer „Verlierernation“. Die Zudringlichkeit der Menschen und der Dinge erlebt sie als ein System gezielter „Weltverschlechterungen“, und so ist es kein Zufall, sondern literarische Notwendigkeit, wenn sie schließlich in die Bombenanschläge auf die Londoner U-Bahn gerät.

Selbst dieses dramatische Erleben ist bloß ein Spiegel der inneren Zustände der Romanfigur. Doch eigentlich unterscheidet sich ihre Verwirrung nach der Katastrophe kein bisschen von ihrer Befindlichkeit zuvor. Selma ist eine Dauertraumatisierte. Im 19. Jahrhundert haben Autoren heftige Wettervorgänge, Gewitter oder Hagelschauer, benutzt, um Gemütsstimmungen darzustellen. Bei Streeruwitz übernimmt ein Terroranschlag diese Funktion. „Entfernung“ ist kein Gesellschaftsroman, sondern ein Befindlichkeitsprotokoll.

Den Alltag von Frauen literaturfähig zu machen, war das erklärte Ziel, als die Dramatikerin Marlene Streeruwitz 1996 ihren ersten Roman vorlegte. Diesem Programm ist sie treu geblieben. Systematisch verwandelt sie gesellschaftliche Gewalt in subjektive Zustände. Als Gewährsfrau dient die Dramatikerin Sarah Kane, deren Ästhetik Selma fasziniert. Kanes Figuren sind für sie „Subjekte der Moderne“, die „mit sich selber in einen sadistischen Clinch verwickelt waren. Exekutoren der Macht an sich selbst. Richter und Henker in einem und gegen sich. Und dass die Aktionen. Die Figuren. Dass die die Traumbilder der Sprache waren. Dass da die Sprache abgespalten wurde von den Hauptfiguren. Dass es sich in den Stücken um eine Innenwelt handelte. Um die Innenwelt einer Person. Der Albtraum der Gesellschaft in einer Person geträumt.“

Damit ist auch Streeruwitz’ Verfahren beschrieben, die Sprache zum Hauptakteur zu machen. Ihre Prosa ist ein Schlachtfeld. Sie setzt die Innerlichkeits-Frauenliteratur der Siebzigerjahre mit anderen sprachlichen Mitteln fort. Der Zerstörung des weiblichen Ichs entspricht die Fragmentierung der Syntax. Das hat man nach ein paar Seiten begriffen, doch stehen immer noch 470 Seiten Gehacktes bevor. Streeruwitz hat ihren zerklüfteten Stil mit zerbrochenen, meist sehr kurzen, häufig auch Verb-freien Sätzen längst zu einer leerlaufenden Manie werden lassen. Ob sie die Auslagen eines Schaufensters beschreibt oder die zersplitterte U-Bahn, macht keinen Unterschied. Alles wird im selben Stakkato-Ton eingeebnet. Alles eine Attacke auf die Sinne.

In dieser Prosa darf nichts blühen. Schönheitsfeindschaft regiert, als wäre es ein Verrat am Erlittenen, wenn die Sprache aus der Knechtschaft entlassen würde. Die grammatikalische Dauererregung führt auf Seiten der Autorin zu Atemlosigkeit, beim Lesen jedoch zu Überdruss. Wenn jeder Satz ein Trümmerfeld ist und jede Heldin eine Trümmerfrau, dann werden keine Brüche mehr sichtbar. Der „sadistische Clinch“, in den Streeruwitz ihre Selma verwickelt, setzt bei den Lesenden eine masochistische Leidensbereitschaft voraus. Doch warum soll man sich beim Lesen quälen lassen?

Trotzdem ist Streeruwitz nicht davor gefeit, in schrecklichen Kitsch abzugleiten. Am Ende, nachdem Selma sich vom Ort der U-Bahn-Katastrophe unbemerkt entfernt hat, um nicht vor den Kameras und den Schaulustigen als Opfer auftreten zu müssen, begegnet sie einer merkwürdigen Gestalt: einem sprachlosen Afrikaner, nackt bis auf den Lendenschurz, der einen rätselhaften, blau gestirnten Stein in der Hand hält. Dieser Mann ist das Zeichen eines vorzivilisatorischen, irgendwie glücklicheren Menschseins. Endlich einer, der sich nicht aufdrängt, einer, dem Selma näherzukommen versucht. Da darf zum guten Schluss sogar die arme Trümmerfrau endlich einmal lachen. Was für eine Erleichterung.

Marlene Streeruwitz: „Entfernung“. S. Fischer, Frankfurt/Main 2006, 476 Seiten, 19,90 Euro