: Ironisch zwinkern
Das Spießertum ist ein vertracktes Problem: Ist es eine extravagante Form des Radikal Chic oder doch der Ballast des ollen Bürgertums?
VON ROBERT MISIK
Vor einigen Jahren wohnte unter mir ein bekanntes männliches, österreichisches Fotomodell – um genau zu sein: das bekannte männliche österreichische Fotomodell. Tagsüber ein umgänglicher Mensch, wurde der Bursche nachts, wahrscheinlich unter Einwirkung raffinierter Substanzen, etwas eigenartig. Er hörte dann stundenlang entsetzlich laute Musik. Nach drei Nächten, in denen mein damals drei Jahre alter Sohn nur wenig Schlaf bekommen hatte, tat ich etwas, wovon ich nie gedacht hätte, dass ich es je tun würde: Ich rief die Polizei.
Die Einschaltung der Staatsmacht hatte zwar keinerlei praktischen Nutzen, da man global erfolgreiche Fashioncelebrities mit Hundert-Euro-Geldstrafen wegen Lärmbelästigung nicht wirklich zu beeindrucken vermag, stürzte mich dafür aber in eine tiefe Depression: Ich kam mir als der letzte Spießer vor.
Seither beschäftigt mich die Spießigkeit – oder, wie Franz Schuh sagen würde: Die Spießigkeit befasst sich mit mir. Das Spießertum ist ja zu einem vertrackten Problem geworden. Mehr als hundert Jahre lang – bis vor zwanzig, dreißig Jahren etwa – lagen die Dinge noch vergleichsweise simpel. Hier gab es die Mehrheit der Spießbürger mit ihren engen Ansichten und ihrem standardisierten Lebensstil, da die Nonkonformisten, die Unkonventionellen. Letztere schreckten die Spießbürger mit ihrem „épater les bourgeois“, wie in klassischen Avantgarde-Tagen, und mit dem gegenkulturellen Rebellionsgestus von Rock, Hippies, Punk.
Die Spießerbeschimpfung wurde dann irgendwie zum Klischee, so dass sie selbst wieder fast spießig geworden ist. Mainstream wollte ohnehin keiner mehr sein, und die Übertretung aller Konventionen wurde allgemein akzeptiert, so dass sie, in einem Zirkelschluss, schon wieder zum Mainstream eigener Art wurde. Wir haben auch gelernt, dass die alte linke Rebellenweisheit, wonach der Kapitalismus Konformismus produziere, auf einem Irrtum beruht. Ist es in Wahrheit doch umgekehrt: Der Kapitalismus lebt nicht von der Einförmigkeit, sondern im Gegenteil von der Unterschiedlichkeit. Sehen kann man das an der fundamentalen Einheit des kapitalistischen Wirtschaftens, der Ware. Die kann nur dann an den Mann und an die Frau gebracht werden, wenn sie sich von anderen Waren unterscheidet. Deswegen sind die meisten Waren heute Kulturwaren, also Lifestyle-Accessoires, und deshalb imitieren viele Firmen auch den Gestus der Avantgarde – immer neu, immer hip, immer am Puls der Zeit.
Diese kulturellen Trends und Einsichten verzahnten sich im vergangenen Jahrzehnt langsam, aber stetig mit generationenabhängigen Prozessen. Die Generation, die mit den Protestbewegungen und den alternativen Lebenskulturexperimenten aufwuchs, wurde älter, auch wenn sie sich oft sagen lassen muss, sie würde sich gerade dagegen sperren. Man heißt sie, wie etwa in der Süddeutschen Zeitung, „nervtötend orientierungslose, sich unablässig selbst beobachtende Schein-Jugendliche“, die sich einbildeten, auch „noch als 45-Jährige zum DJ oder Rebellen“ zu taugen. Unterstellt wird, diese Generation habe einen Horror davor, alt zu werden, was nicht zuletzt bedeutet, in ruhigere Bahnen zu geraten. Kurzum: spießig zu werden.
In einem in seinem Umfang gewiss überschaubaren, medial aber gefeierten Kreis von 20- und 30-Jährigen begann man daraufhin, das Bürgerliche – die Konvention, die gepflegten Umgangsformen, den Smoking – zu polieren, aber nicht als Ausweis neuer Spießigkeit, sondern mit dem Gestus der ultimativen Rebellion. Gegen die Ältlichen, die das Rebellische zu einem gestischen Jargon unter vielen machten, revoltieren sie gerade mit aufreizendem Konformismus. Regelmäßig wird diese Sau seither durch das deutsche Feuilletondorf getrieben, mal als „Generation Golf“, mal als „Neue Bürgerlichkeit“. Dabei handelt es sich freilich um eine eigenartige Form des Spießigen. Diederich Diedrichsen formuliert das in einem ausholenden Essay in Theater heute paradox: Während einst die rebellischen Jugendkulturen sich mit dem Ziel, einen Distinktionsgewinn zu realisieren, vom bürgerlichen Mainstream abgrenzten, verspricht es heute „einen Distinktionsgewinn, wieder bürgerlich zu werden“. Ein „Kurzschluss“ der Individualisierung sei dies, liegt dessen Besonderheit doch darin „in Abgrenzung von der Abgrenzung bei der Norm zu landen – als Abgrenzung, versteht sich. Man ist jetzt etwas ganz Verbotenes: ein Bürger, härter als jede Avantgarde.“
All dies natürlich mit einem ironischen Augenzwinkern, als Gag. „Augenzwinkern ist der zentrale Begriff der wiederentdeckten Spießigkeit“, erkennt die Berliner Welt, gewiss eine Kapazität in Spießerfragen. Man könnte folglich annehmen, dass sich das Spießige erledigt hat, weil die grauen Exrebellen nicht verspießern wollen und die jungen Neuspießer bloße Als-ob-Spießer sind, die das Spießige nur als besonders extravagante Variante des Radical Chic umformen – als Zitat, als Coverversion. Diese Deutung wurde in den Rang des Kults durch einen vielfach preisgekrönten Werbespot einer deutschen Landessparkasse erhoben, in dem ein kleines Mädchen mit ihrem alten Hippievater vor einem Wohnwagencamp sitzt. Das Mädchen erzählt von einer Familie, die in einem Eigenheim lebe. Der Vater sagt: „Das sind doch Spießer.“ Dann erzählt das Mädchen von einer Dachwohnung. Der Vater sagt: „Auch Spießer.“ Darauf das Mädchen: „Papa, wenn ich groß bin, dann will ich auch mal Spießer werden.“
Heißt all das aber tatsächlich, dass die Frage des Spießertums sich vollends erledigt hat? Warum aber springt mich dann das Spießertum all den Deutungen zum Trotz regelmäßig an? Wahrscheinlich ist: Es springt mich geradezu im Mantel dieser Deutungen an, die wiederum von leibhaftigen Redakteuren in den Rang von Debatten erhoben werden. Da stellt sich die Frage, was denn die Redakteure und Autoren daran bewegt. Ich wage die These, dass kaum jemand ein derart lässiges – „augenzwinkerndes“ – Verhältnis zur Spießigkeit hat, wie es proklamiert wird. Einmal gibt es da die gegenkulturell sozialisierten Frühvierziger, die sich dabei ertappen, wie sie ihre Kinder zwingen, abends die Zähne zu putzen. Die bemerken, dass sie zunehmend gereizt darauf reagieren, wenn ihre Wohnung völlig versifft (und darum eine Putzfrau engagieren). Die mit wachsender Häufigkeit vor Mitternacht ins Bett gehen und in deren Kopf sich die panische Frage einnistet: „Bin ich nicht mehr hip?“
Auf der anderen Seite lauert die große Zahl derer, die im Grunde Spießer sind und immer waren, jene, welche die gerade angesagten Bücher lesen, die gerade angesagten Meinungen vertreten und deren Spießertum sich im Zeichen des Kulturkapitalismus nur lässiger tarnen lässt. Es ist selbstverständlich auch nicht so, dass diese Leute alle die gleichen Meinungen vertreten, denn es gibt, wie bei der Mode, nicht nur eine, die gerade angesagt ist, sondern mehrere – sonst brächte es das Debattieren ja nicht zum Entertainment. Da es schwierig ist, die erlaubten angesagten von den erlaubten, aber unangesagten und von den möglicherweise originellen, aber verpönten Meinungen zu unterscheiden, trainieren sich diese Leute einerseits ein gutes Sensorium für die Trenderkennung an. Andererseits entwickeln sie einen ironischen Sound, der sie auf die sichere Seite bringt, wenn sie einmal zur falschen Meinung greifen.
Es ist also ziemlich gewagt, zu proklamieren, das Spießige habe sich als Problem erledigt. Wahrscheinlich ist diese Proklamation ebenso wie die Adoleszenzverweigerung der „Scheinjugendlichen“ eher eine Abwehrstrategie gegen das Spießertum, das sich einfach einschleicht – oder das man, wenn es einem einmal implantiert wurde, nie ganz los wird. Nahezu jede Wohnung, in die ich komme, ist spießig eingerichtet mit dem sofort sichtbaren Willen zur Unspießigkeit. Überall Spuren vom Bewusstsein, dass es aufs Stilbewusstsein ankommt und gleichzeitig überall der Beweis von dessen Mangel. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich häufig regelrecht umstellt von Spießern. Nur haben sie sich diversifiziert und kommen als Traditionsspießer, aber auch als Alternativspießer, als Mittelschichts- und Unterklassenspießer daher.
Die feuilletonische Erledigung des Spießigen, will ich also behaupten, ist kein Hinweis darauf, dass die Spießigkeit weniger verbreitet ist als früher, sondern dass der Horror vor der Spießigkeit weiter verbreitet ist denn je. Nicht die Gelassenheit angesichts des Spießigen hat sich verallgemeinert, sondern die Angst vor der Spießigkeit. Jeder fürchtet sich vor der eigenen Spießigkeit oder vor der Gefahr, spießig zu werden. Ja, selbst der demonstrativ Unspießige fürchtet dies insgeheim, weil der Nonkonformismus leicht zur billigen Pose gerät – und billige Posen sind extrem spießig. Die Spießigkeit ist also ein Fluch, dem man nicht leicht entkommt. Darum auch der Trend, aus ursprünglich spießigen Dingen wie etwa Kochbüchern Kunst zu machen. Darum auch die unablässigen Bemühungen von Galeristen, Klamottenhändlern und anderen um betont schäbige Läden.
Noch das lässigste Spiel mit der Spießigkeit ist also nicht die Versöhnung mit derselben. Es erinnert an die Operation, die Sigmund Freud am Beispiel der Verneinung beschrieben hat: Noch der Versuch, es zu bestreiten, bestätigt das Entsetzliche der Spießigkeit.