post aus palermo
: Bedenkliches Ergebnis der neuesten Marktforschung

Wie verzweifelt man es auch versucht zu betrachten, Palermo bleibt eine irritierend ironiefreie Zone

Vom Deck der Florio kann man weit nach Mitternacht die Milchstraße sehen. Keine Menschenseele auf dem großzügigen Stahlplateau, tief unter uns das dumpfe, gleichmäßige Brummen der Schiffsmotoren. Zum Glück hat die Bar im achten Stock noch offen. Wir trinken eiskalten Weißwein aus weißen Plastikbechern und blicken über das spiegelglatte tyrrhenische Meer, das sich am Horizont nur um eine Nuance schwärzer vom nachtschwarzen Himmel abhebt. In Neapel, Stunden zuvor, hatten wir erlebt, was es heißt, einen Luxusdampfer nach Palermo zu betreten: Die Beladung des riesigen Schiffes wurde von einer mit Maschinenpistolen bewaffneten Dutzendschaft Carabinieri bewacht.

Unter den europäischen Großstädten klingt der Name Palermos schillernd – und zugleich unheilvoll. Das liegt an der Existenz der Mafia, deren komplette Führungsriege um Bernardo Provenzano, den Boss der Bosse, allerdings vor kurzem eingebuchtet wurde. Die Fahndungserfolge werden dem Politikwechsel seit Romano Prodis Wahlsieg zugeschrieben. So recht trauen mag dem Fortschritt noch niemand, schließlich könnte es bald neue Interpretationsmodelle der Regierungsmacht geben. Traditionell sollte man in Sizilien über die Mafia besser nur dann sprechen, wenn man ausdrücklich um die eigene Meinung gebeten wird. Denn das Geschäft der Mafia ist das mit der Angst.

Laut italienischen Medienberichten aus dem letzten Jahr sollen rund 70 Prozent aller Unternehmer und Geschäftsleute auf Sizilien Schutzgeld (das so genannte Pizzo) bezahlen. In Sizilien bringt das Schutzgeld jährlich sieben Milliarden Euro, in Italien landesweit 14 Milliarden ein. Neben Drogenhandel gehört das Pizzo somit zum „Kerngeschäft“ der Mafia. Widerstand gilt nach wie vor als tödlich.

Politiker in Palermo verbreiten nach wie vor gerne die Illusion, die Mafia sei weitgehend besiegt. Doch der vor kurzem gewählte neue Präsident Siziliens, Salvatore „Totò“ Cuffaro, gilt als Mafia-freundlich. Pikant: Er gewann das Präsidentenamt in einem emotional aufgeladenen Wahlkampf ausgerechnet gegen Rita Borsellino, die Schwester des 1992 mit einer Autobombe getöteten Antimafiarichters Falcone Borsellino.

Die römische Zeitung La Repubblica veröffentlichte kürzlich eine Tarifliste, aus der hervorgeht, was sizilianische Geschäftsleute an die Mafia entrichten müssen: Kleine Ladenbesitzer zahlen demnach 500 bis 1.000 Euro pro Quartal, bessere Geschäfte wie etwa Juweliere müssen 3.000 Euro abgeben, große Läden 5.000 Euro. In ganz Italien sollen derzeit 160.000 Unternehmen erpresst werden, gut dreimal so viel wie vor 20 Jahren. Die Geschäftsleute wahren darüber Schweigen. Fast alle bezahlen die Schutzgelder, aber keiner möchte es zugeben.

Das in Deutschland kursierende Gerücht bleibt unbestätigt, der neueste Schlager auf den Märkten Palermos – neben gefälschten Gucci-Gürteln, D&G-Jeans und Sonnenbrillen von Armani – wären T-Shirts mit der Aufschrift „Mafia“. Es ist nichts mit Ironiefähigkeit. Auf keinem der drei großen palermischen Märkte, nicht auf dem Capo-Markt, nicht auf dem Ballarò-Markt und auch nicht auf der Vucceria, dem ältesten Markt im ältesten Viertel der ältesten Altstadt des alten Europa, werden wir fündig. Als wir uns anschicken, zum Beweis der nicht existenten T-Shirts, Fotos der Kleiderstände mit den zum Verkauf feilgebotenen Markenfälschungen zu schießen, werden wir von Davide, einem Verkäufer, freundlich, aber bestimmt zur Seite gebeten: „Es ist verboten, Fotos von Schmuggelware zu schießen.“

In der Vucceria, dem vielleicht schönsten, sicherlich aber unheimlichsten Markt Europas, verfallen trotz aller Betriebsamkeit und Schlagfertigkeit die jahrhundertealten Häuser. Man bemerkt diesen Verfall allerdings nur, wenn man es schafft, den eigenen, faszinierten Blick von den üppigen, exotisch duftenden Gemüse-, Obst- und Fischauslagen der Marktbetreiber abzuwenden. Dann nämlich sieht man, dass die meisten der Häuser unbewohnt sind – und der Markt durch eine Geisterstadt führt. Das ist beklemmend und wunderschön zugleich. Denn nur an wenigen Orten in Europa kann man einen ähnlich unmittelbaren, erschlagenden Eindruck von Alter und Vergänglichkeit erleben wie in der Vucceria.

Nicht wenige sagen, es sei die Mafia gewesen, die die Altstadt systematisch hat verrotten lassen – und somit die Saat für eine selbst für Mafiaverhältnisse lukrative, weil milliardenschwere bauspekulative Ernte gelegt hat. Andere sagen, dass es der Anti-Mafia bedurfte, die mit der Vertreibung der sichtbaren Mafia aus Palermo diese Ernte erst ermöglicht hat. Wie man es auch betrachtet, Palermo bleibt eine irritierend ironiefreie Zone.

MAX DAX, ROBERT DEFCON