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Archiv-Artikel

Adieu, Nordrhein-Westfalen!

„Die Wirtschaftskrise und die Betonwüste Hagen – ich konnte das nicht mehr“In der neuen Heimat ist das Leben flexibler, aufregender, chancen-reicher, so der Tenor

VON MIRIAM BUNJES

Steffen Krieger hatte schon lange von Peru geträumt: romantische Träume von einsamen Andenplateaus, verlassenen Inkastätten und mystischem Regenwald. Und seit einem Jahr ganz praktisch von einem privaten Klinikprojekt in Cuzco am Fuße des Nevada Huascarán, ganz in der Nähe der legendären Inkastadt Macchu Picchu.

Vor drei Monaten hat er zumindest seine praktischen Träume wahr gemacht. Zusammen mit einem Freund hat der 34-jährige Zahntechniker seine Heimatstadt Hagen hinter sich gelassen und baut inzwischen in Cuzco. Wenn es nach ihm geht, kommt er nicht wieder. „Ich fand es so entsetzlich hässlich dort“, sagt Steffen Krieger. „Auch jobmäßig hielt mich nichts mehr.“ Der Betrieb, in dem er angestellt war, muss seit Jahren sparen, verlängert die Verträge inzwischen nur noch im Ein-Jahres-Rhythmus. Vor drei Jahren waren sie 20 Mitarbeiter, heute sind dort 16 beschäftigt. Entsprechend war zuletzt die Stimmung. „Die Wirtschaftskrise war das Dauerthema in meinem alten Betrieb“, sagt Krieger. „Das und die Betonwüste – ich konnte das irgendwie nicht mehr.“

Leute wie Steffen Krieger verlassen zur Zeit in Scharen NRW und den Rest der Republik. 24.000 Menschen kehrten 2005 Nordrhein-Westfalen den Rücken. Das belegen Zahlen des Landesamt für Statistik in NRW. Im Jahr davor waren es 2.000 weniger, vor fünf Jahren 5.000 weniger. Damit liegt das Land im Bundestrend. 177.000 Deutsche wanderten 2005 aus, 2003 waren es noch knappe 130.000. Die meisten gehen ins europäische Ausland, zur Zeit bevorzugt nach Österreich und in die skandinavischen Länder. Auf der Favoritenliste rangiert gleich danach der Klassiker USA, inzwischen nur noch knapp vor Australien.

Es seien hauptsächlich Handwerker, die derzeit ihre Heimat verlassen, sagt Martina Lüdeke vom Essener Raphaelswerk, der Auswandererberatung beim Caritasverband. „Gerade in Australien sind deutsche Handwerker sehr begehrt“, sagt Lüdeke. „Auch in Skandinavien werden sie gesucht. Hier hingegen bleiben viele lange arbeitslos.“ Die meisten, die zu Martina Lüdeke in die Beratung kommen, gehen wegen der Arbeit in ein neues Land. „Der Abenteuer-Faktor ist aber auch immer irgendwie im Spiel“, sagt Martina Lüdeke.

80 Prozent derjenigen, die im vergangenen Jahr in die Beratung kamen, waren fertig ausgebildete Handwerker. Das Raphaelswerk hilft den Reisewilligen bei der Jobsuche, bei der Visabeschaffung, bei der Wohnungssuche. „Oft verdienen die Leute anfangs etwas weniger“, sagt Lüdeke. „Das ist den meisten aber egal, sie haben genug von der deutschen Konjunktur und dem ewigen Jammern darüber.“

Emilia Jagowski ist es egal, wie viel in ihrer Heimatstadt Hamm gejammert wird. Die Biologin will forschen. „Ich will aber auch Kinder, an deutschen Unis lässt sich das kaum kombinieren.“ Professorin will sie gar nicht werden. „Wissenschaftlicher Mittelbau ist super“, sagt sie. „Nur darf man das in Deutschland nicht lebenslang machen und bei einer Professorenkarriere bleibt mein Familienwunsch auf der Strecke.“ Als dann ihr Forschungsprojekt an der Finanzierung scheiterte, überlegte sich die 36-Jährige zum ersten Mal, das Land zu verlassen. „‘Was hält mich hier?‘ habe ich mich plötzlich gefragt“, erzählt sie. Die Antworten: Freunde, Verwandte, dass sie hier geboren ist. Es reichte nicht mehr. „Die Welt ist groß und woanders kann ich in meinem Beruf glücklicher werden.“

Es gehen vor allem die Spitzenkräfte, sagt Stefanie Wahl vom Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft. „Man muss jetzt noch nicht von einem brain drain sprechen“, sagt die Politologin. „Aber die Auswanderungen sind ein ernstzunehmendes Zeichen.“ Die Arbeitnehmer sind unzufrieden, nicht nur wegen der hohen Arbeitslosigkeit. Deutschlands Arbeitsplätze sind immer mehr Menschen zu starr, zeigt eine Studie des privaten Bonner Instituts. „In anderen Ländern können die Menschen mehr mitbestimmen, mehr entscheiden, auch wenn sie nicht die Chefs sind“, sagt Stefanie Wahl. Und auch der Weg in die Selbstständigkeit ist steinig. „Die bürokratischen Hürden wirken abschreckend.“

Ihre Studie zeigt: Weil eine gute Ausbildung in Deutschland keine Einstellungsgarantie ist, gehen vor allem die Handwerker und Akademiker. „Reine Abenteurer sind natürlich auch dabei“, sagt Stefanie Wahl. „Inzwischen gehen aber auch Leute, die eigentlich bleiben würden.“ Volkswirtschaftlich ist das schlecht, obwohl die Arbeitslosen unter den Auswanderern natürlich kurzfristig nicht die Statistik verschandeln. „Auswandererland zu sein, heißt, die Ausbildung zu bezahlen und die teuer Ausgebildeten dann zu verlieren“, sagt Stefanie Wahl.

Auch Emilia Jagowski ist für die deutsche Forschungslandschaft verloren. Sie zieht in zwei Wochen in die australische Hafenstadt Sydney. Dort hat sie eine Stelle in einem privaten Forschungsinstitut gefunden. Ihr Freund, ein gelernter Fotograf, kommt mit. „Er kann ja auf der ganzen Welt arbeiten“, sagt sie. Übers Internet hat sie eine Wohnung gefunden. „Superschön“, sagt sie. „Alles wird besser.“ Auch Kinder wollen sie in Australien bekommen – noch etwas, das in Deutschland keiner mehr machen will. Optimismus auch in Cuzco. „Alles ist noch chaotisch, aber es wird“, mailt Steffen Krieger aus Peru. „Wir sind auf jeden Fall voller Tatendrang und haben Deutschland und vor allem Hagen noch keine Sekunde vermisst.“

Gefühle, die Steffen Krieger und Emilia Jagowski mit tausenden teilen. „Heimatfrust – Nix wie weg“ und „Hier sind wir glücklich“, heißen die am häufigsten genutzten Rubriken im Diskussionsforum von auswandern-aktuell.de, einem der zahlreichen deutschen Internetportale mit Rundumservice für Emigranten. Auswanderungswillige tauschen sich hier mit Ausgewanderten aus, dazu hat der Macher der Seite alle möglichen Organisationstipps und Länderinformationen gestellt. Auch wenn sich die Geschichten und Träume in Details unterscheiden – in einem gleichen sich alle: Deutschland macht keinen Spaß, allen wird zu viel gejammert, zu wenige spannende Jobs angeboten. In der neuen Heimat, wo auch immer die ist, gestaltet sich das Leben flexibler, aufregender, chancenreicher. Dennoch: Nach zehn Jahren kommen eine ganze Reihe Auswanderer wieder. „Irgendwann fangen viele dann doch an, Deutschland zu vermissen“, sagt Martina Lüdeke vom Essener Raphaelswerk. „Das betrifft vor allem die, bei denen nicht die Abenteuerlust im Vordergrund stand, sondern die wirtschaftliche Notwendigkeit.“

Oder diejenigen, deren Lebenspläne sich auch im Ausland nicht verwirklichen ließen. Auch für die gibt es eine Diskussionsrubrik auf auswandern-aktuell. de: „Voll auf die Fresse“ heißt hier die Überschrift. Gerade mal zwei Userinnen haben hier geschrieben. „Wir sind als Familie nach Australien ausgewandert, aber mein Mann benutzte das, um mir die Kinder zu klauen“, schreibt eine Elke. Nach der Trennung verlor sie das Visum und musste nach Deutschland zurück. Eine Antwort hat sie zu dieser Geschichte bekommen: „Mir ist das Gleiche in Belgien passiert“, schreibt eine Frau.

www.raphaels-werk.de, www.auswaertiges-amt.de