: Beratung für die letzten Stunden
Ein Ethikkomitee soll im Krankenhaus Ärzten und Angehörigen bei schweren Entscheidungen helfen. Die Verantwortung ist groß, die Helfer sollen professioneller ausgebildet werden, fordern Ethiker. In Göttingen werden schon Kurse angeboten
VON KLAUS-PETER GÖRLITZER
Deutschlands Krankenhäuser sollen „klinische Ethikkomitees“ (KEK) einrichten. Das fordert die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (Zeko). Sie seien ein „praxisrelevanter Beitrag zur besseren Versorgung von Patienten“. In solchen Gremien reden Ärzte und Pflegekräfte ebenso mit wie Seelsorger, Patientenvertreter und Philosophen. Dabei sind KEK nicht zu verwechseln mit Ethikkommissionen, die Arzneimitteltests und medizinische Versuche an Menschen begutachten.
Knapp zehn Prozent der 2.200 Krankenhäuser hierzulande geben an, ein KEK etabliert zu haben; auch diverse Pflege- und Behinderteneinrichtungen leisten sich Ethikberatung. Wann ein KEK aktiv werden soll, demonstriert der Bochumer Professor Jochen Vollmann, federführender Autor der Zeko-Stellungnahme, an einem Beispiel: Ein 90-jähriger Heimbewohner erleidet einen Schlaganfall. Nach der Behandlung im Krankenhaus soll der krebskranke Patient, der halbseitig gelähmt ist und nicht mehr selbstständig essen und trinken kann, in sein Pflegeheim entlassen werden. Um die Ernährung des Kranken zu ermöglichen, wollen die Klinikärzte tun, was in solchen Fällen Routine ist: eine Magensonde legen. Da interveniert der Hausarzt des Bewusstseinsgetrübten: Er behauptet, die Ernährungssonde werde nur Leiden verlängern und der Patient dauerhaft pflegebedürftig bleiben. Aber aus Sicht der Neurologen ist eine Besserung in den kommenden Monaten nicht ausgeschlossen.
„In dieser Situation“, erläutert Bioethiker Vollmann, „findet eine klinische Ethikberatung statt, an der neben dem Behandlungsteam auch der Schwiegersohn und die Tochter des Patienten teilnehmen.“
Ergebnis im konkreten Fall: Die Beteiligten kamen überein, die zum Überleben wichtige Magensonde nicht zu legen; einige Tage später starb der Patient im Pflegeheim.
Ob das Unterlassen der Ernährung beim Kranken, der seinen Willen nicht selbst äußern konnte, überhaupt rechtens war, hat im konkreten Fall kein Gericht untersucht. Geht es nach der Zeko, sollen Ethikberater auch gar nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Das Komiteevotum soll Empfehlungscharakter haben – nicht mehr und nicht weniger. Vielmehr betont die Stellungnahme die Pflichten des behandelnden Arztes: „Ihn trifft unabhängig von einer vorherigen ethischen Beratung ggf. die haftungs- und strafrechtliche Verantwortung.“
Gleichwohl ermutigt die Zeko Ethikgremien dazu, „Leitlinien zum Verhalten in ethisch sensiblen Bereichen“ aufzuschreiben. Beispielhaft nennt sie „Therapieabbruch auf Intensivstationen“, Reanimation und „Anwendung von PEG-Sonden bei hochbetagten, multimorbiden Patienten“. Als Vorreiter gilt das Uniklinikum Erlangen. Dessen KEK, 2002 von Professor Vollmann maßgeblich mitgegründet und heute 20 Mitglieder stark, hat inzwischen zwei Empfehlungen vorgelegt: Die eine beschreibt, wann ein Verzicht auf Wiederbelebung von Patienten angeordnet werden solle. Die zweite Leitlinie erläutert, in welchen Fällen „Therapiebegrenzung auf Intensivstationen“ gerechtfertigt sei.
Als zentrale Bedingung für das Unterlassen medizinischer Maßnahmen gelten in beiden Erlanger Papieren so genannte Patientenverfügungen. Mit solchen Schriftstücken erklären Menschen vorab, auf welche Therapien sie verzichten wollen, falls sie bei künftigen Erkrankungen nicht mehr entscheidungsfähig sein sollten. Die Verfügungen seien „als vollwertiger Ausdruck des Patientenwillens zu befolgen“, behauptet das Erlanger KEK.
Diese klinikinterne Leitlinie überrascht: Denn noch gibt es in Deutschland kein Gesetz, das Patientenverfügungen als verbindlich anerkennt. Einen entsprechenden Entwurf hatte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) Anfang 2005 nach zahlreichen Protesten zurückgezogen, ein neuer Anlauf soll noch in diesem Jahr folgen.
Therapiekosten und der politische Willen zum Sparen im Gesundheitswesen spielen laut Vollmann bislang „keine große Rolle“ bei den KEK-Beratungen. Dies könne sich allerdings ändern: „Die ökonomische Begrenzung wird zu Wertfragen führen.“ Bioethische Abwägungsprozesse sind dem Bochumer Professor vertraut. Beauftragt vom Robert-Koch-Institut, eröffnete er in seiner 2001 publizierten Expertise zur Sterbebegleitung folgende „Perspektive“: „Angesichts hoher Krankenhausbehandlungskosten am Lebensende“, so Vollmann, „wird insbesondere bei hochbetagten Patienten zu entscheiden sein, ob diese Ressourcen nicht besser in eine gemeindenahe palliative Medizin investiert werden sollen.“
Vollmann und eine Reihe von Bioethikern möchten Ethikberatung im Krankenhaus als „professionelle Dienstleistung“ etabliert sehen. Fördern soll dies ein „Qualifizierungsprogramm“, das Vollmanns Bochumer Uni-Institut in Kooperation mit dem Göttinger Verein „Akademie für Ethik in der Medizin“ anbietet. Wer sich in „30 bis 40 Lehreinheiten à 45 Minuten“ zum „kompetenten Ethikberater“ schulen lassen möchte, zahlt 700 Euro Grundkursgebühr. Für 160 Euro zusätzlich darf man am zweitägigen Aufbaukurs „Entscheidungen am Lebensende“ teilnehmen.
Der Markt für solche Fortbildungen erscheint vielversprechend: „Bei der Zertifizierung von Krankenhäusern“, betonen die Kursveranstalter, „wird Ethikberatung zunehmend als ein wichtiges Qualitätskriterium angesehen.“